Die Sanddornkönigin
aber da sie seit gestern Morgen nichts Vernünftiges mehr zu essen hatte, war sie nicht wählerisch. Schon gestern Abend hatte der Magen geknurrt, zum Glück hatte sie noch zwei kleine Gummibärchentüten gefunden, die wohl als Betthupferl gedacht auf den Kopfkissen gelegen hatten. Doch im Grunde störte sie der Hunger gar nicht so sehr. Sie bemerkte nur immer mehr, dass sie ihre Medikamente nicht dabeihatte. Zuerst hatte sie es am Zittern der Finger bemerkt, was sie als Müdigkeit abgetan hatte. Doch dann war ihr der kalte Schweiß ausgebrochen, einfach so, ohne Grund, sie hatte gefroren und geschwitzt, und ihr Puls war in eine rasende Frequenz umgeschlagen. Dieser Zustand hatte sie in dieser Nacht mehrere Male aus dem Schlaf gerissen und nur die endgültige Erschöpfung hatte sie immer wieder in einen Dämmerzustand versetzt. Nach den ersten Bissen fühlte sie sich wunderbar gestärkt. Das Wissen, zumindest für eine kurze Zeit nicht mehr allein im Zimmer sein zu müssen, machte sie ruhiger.
Sie lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes, zog die Beine an und begann zu lesen.
»Alternativvorschläge zur effektiveren Arbeit in Küche und Restaurant«. Es war von Ronja.
Sie schluckte und musste ein paar Krümel forthusten, die sich in ihrem trockenen Hals festgesetzt hatten. Auf dem Nachttisch stand ein Becher mit Leitungswasser. Sie spülte nach.
Nur flüchtig überflog sie das Anschreiben auf der ersten Seite. Es war an Fokke gerichtet, jedoch standen auch Thore und der Restaurantleiter Diekhoff als Empfänger zwecks Kenntnisnahme notiert. Doch die erste Seite brachte sie bereits zum Stocken:
»Wer besucht unser Hotelrestaurant?
70 % Hotelgäste, 20 % Inselgäste, 10 % Insulaner. Wie sind die Altersstrukturen?
80% über 60, 12% zwischen 40 und 59, 7% zwischen 20 und 39,1 % zwischen 0 und 19.
Wie sind die Altersstrukturen auf der Insel?
13% über 60, 43% zwischen 40 und 59, 38% zwischen 20 und 39, 6 % zwischen 0 und 19.
Fazit: Wir decken mit dem Angebot unseres Restaurants zwar den Bedarf unserer Hotelgäste gut ab, vernachlässigen aber den Bedarf der Juist-Urlauber«.
Es bestand kein Zweifel, und Hilke hatte es eigentlich bereits gewusst: Ronja Polwinski war eine gewiefte Geschäftsfrau gewesen, die Dingen auf den Grund ging, die bislang noch niemand infrage gestellt hatte. Hilke las weiter:
»Wie ist die Erwartungshaltung bei einem Restaurantbesuch a) bei unseren Restaurantgästen, b) bei den Juist-Gästen, die nicht unser Restaurant besuchen?
a) 37 % gutes Essen, 24 % gehobenes Ambiente, 22 % Nähe zum Hotel, 9% guter Service, 6% Preis- Leistungs-Verhältnis, 1 % Familienfreundlichkeit, 1 % Vielseitigkeit des Angebotes b) 31% gutes Essen, 20% Familienfreundlichkeit, 15% Preis-Leistungs-Verhältnis, 14% Vielseitigkeit des Angebotes, 10 % guter Service, 8 % gehobenes Ambiente, 2 % Nähe zum Hotel Fazit: Das gute Essen steht bei beiden Gruppen an erster Stelle, ansonsten differieren die Erwartungshaltungen auffällig voneinander. Eine gezielte Umstrukturierung des Restaurants wird uns bessere Auslastung garantieren. In erster Linie müssten die Punkte ›Familienfreundlichkeit‹ und ›Preis-Leistungs-Verhältnis‹ überarbeitet werden, wobei wir den guten Service und das gehobene Ambiente nicht außer Acht lassen sollten. Wenn wir im gewohnten Stil weiterarbeiten, ist zu befürchten, dass wir in absehbarer Zukunft nur noch Hausgäste beköstigen. Da wir hier aber bereits an einer Konzeption zur Verjüngung unserer Hotelgäste arbeiten, wäre es ratsam, die Entwicklung des Restaurants in die Planung mit einzubeziehen.«
Hilke wickelte das zweite Brötchen aus der Serviette und biss hinein. Sie war wie gebannt. Diese Entwicklungen hatte sie in keiner Weise miterlebt, sie begann sich zu fragen, wo ihr Kopf in den letzten Monaten gesteckt haben könnte. Mit zitternden Händen griff sie zum Becher, und es war, als gäbe ihr der eigene Körper bereits eine Antwort: die Tabletten. Niemand hatte sie gezwungen, diese Pillen zu schlucken, sie hatte einfach nur klein beigegeben, als sie merkte, dass es mit ihnen einfacher war.
»Wie können wir unser Restaurant sinnvoller einsetzen, ohne bereits vorhandene Stammgäste zu vertreiben?
1. Die Qualität der Küche muss erhalten bleiben.
2. Der Service und das Ambiente sollten ihr Niveau halten.
3. Wir sollten Familien ein einladenderes Auftreten bieten (vielleicht ist Schwellenangst bei Familien mit Kindern ein Grund für das Fernbleiben).
4. Die Preise
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