Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
man sich fragte, ob sie wohl das geringste Mitleid mit ihrem Kollegen empfanden, noch die Soldaten, die wie Holzfiguren mit gesenkten Köpfen dastanden, hörten dieses Geräusch. Alles, was sie gehört hatten, war der schauerliche Schrei, der aus Qians verstümmeltem Mund drang. Ein solcher Schrei vermochte gewöhnliche Menschen um den Verstand zu bringen, aber an solche Schreie war Zhao Jia durchaus gewöhnt. Was ihm die Haare zu Berge stehen und den Magen umdrehen ließ, war dieses schabende Geräusch des Messers am Rand der Augenhöhle. Innerhalb eines flüchtigen Moments verging ihm Hören und Sehen. Der Schrei drang ihm ins Fleisch, wand sich um seine Eingeweide und schlug Wurzeln in seinen Knorpeln, aus denen er ihn in seinem ganzen Leben nicht mehr würde ausreißen können. »Nummer vierhundertachtundneunzig ...«, sagte er.
Der Lehrling war ohnmächtig geworden.
Einige Dutzend weitere Soldaten waren zu Boden gesunken.
Die Augen Qian Xiongfeis lagen auf dem Boden und leuchteten. Zwar waren sie von Staub bedeckt, doch noch immer schien ein blasses, feuchtkaltes Todesflimmern von ihnen auszugehen. Wohin starrten sie? Für Zhao war es ausgemacht, daß sie Yuan Shikai anstarrten. Würde der General die Erinnerung an diese Augen je wieder loswerden?
An diesem Punkt der Hinrichtung überkam Zhao Jia eine unglaubliche Müdigkeit. Vor kurzem erst hatte er die Sechs Heroen enthauptet, was in ganz China, in der ganzen Welt sogar, für großen Wirbel gesorgt hatte. Aus Dankbarkeit gegenüber dem Vertrauen, das ihm Seine Exzellenz Liu Guangdi erwiesen hatte, hatte er die rostig gewordenen Zähne des »Großen Generals« mit Hilfe seiner Lehrlinge so scharf geschliffen, daß sie damit ein Haar in tausend Stücke hätten zerlegen können. Seine Exzellenz Liu starb schnell und reibungslos, und auch die anderen fünf hatten von der Schärfe des Messers profitiert. Als er sie mit dem »Großen General« enthauptete, geschah das mit solch blitzartiger Geschwindigkeit, daß die Verurteilten sicher nichts weiter als einen kalten Windhauch an ihrem Nacken verspürt hatten, als ihr Kopf schon nicht mehr auf den Schultern saß. Einige waren nach der Enthauptung noch vorwärts gekrochen oder plötzlich aufgesprungen und der Ausdruck auf den Gesichtern ihrer abgetrennten Köpfe war noch voller Lebendigkeit gewesen. Er war sich sicher, daß ihre Gehirne auch noch lange nachdem Kopf und Rumpf voneinander getrennt worden waren, noch klare Gedanken zu fassen in der Lage gewesen waren. Die Nachricht von der Exekution der Sechs Heroen durch den Henker des Tribunals des Justizministeriums hatte sich in der gesamten Hauptstadt wie ein Lauffeuer verbreitet. Es war von einem Wunder die Rede gewesen, und man hatte sich im Laufe der Zeit immer phantastischere Geschichten erzählt. So hieß es zum Beispiel, der kopflose Körper Seiner Exzellenz Tan Sitong sei zu jedermanns Erstaunen zu Gang Yi gerannt, der die Exekution überwachte, und habe ihm eine schallende Ohrfeige verpaßt. Und der abgeschlagene Kopf Seiner Exzellenz Liu Guangdi hätte im Rollen mit lauter Stimme ein Gedicht aufgesagt, Tausende hätte es mit eigenen Ohren gehört.
Nicht einmal diese von großem Aufsehen begleitete Exekution einiger der ersten Männer des Staates hatte Zhao Jia, Großmutter Zhao, zu ermüden vermocht. Aber die Ausführung dieser Hinrichtung durch Zerstückelung an diesem keineswegs hochrangigen Regimentsoffizier brachte den berühmten und glorreichen ersten Foltermeister des Kaisers an den Rand der Erschöpfung. Die Beine versagten ihm und seine Hände schmerzten bei jeder Bewegung so entsetzlich, als röstete man sie über dem offenen Feuer.
Der vierhundertneunundneunzigste Schnitt galt Qian Xiongfeis Nase. Diesmal trat nur noch blutiger Schaum aus seinem Mund. Er gab keinen Ton mehr von sich; selbst sein eiserner Nacken war erschlafft und sein Kopf hing vornüber.
Zuletzt stieß Zhao Jia dem Überbleibsel jenes Qian Xiongfei das Messer ins Herz. Schwarzes Blut rann die Klinge herab wie geschmolzener brauner Zucker. Der Geruch dieses dicken Bluts war so intensiv, daß Zhao Jia erneut übel wurde. Er schnitt mit seinem Messer ein Stück von Qians Herz heraus. Dann sagte er mit hängendem Kopf zu seinen eigenen Fußspitzen: »Schnitt Nummer fünfhundert. Seine Exzellenz möge sich von der korrekten Ausführung der Strafe überzeugen.«
Kapitel 10:
Das Versprechen
1.
In der Nacht des achten Tages des zwölften Mondmonats des Jahres 1897, dem
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