Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
fehlten noch die letzten sechs Schnitte. Zhao Jia war sich seines Triumphs sicher; mit Gelassenheit konnte er sich an den letzten Akt seiner Darbietung machen. Mit dem vierhundertfünfundneunzigsten Schnitt hieb er Qian das linke Ohr ab, das sich in seiner Hand kalt wie ein Eisklotz anfühlte. Der nächste Schnitt galt dem rechten Ohr. Als er es weggeworfen hatte, kam der inzwischen schon bis zum Platzen gefüllte alte Köter angehinkt, schnüffelte ein wenig herum und wendete sich dann aber angewidert ab und trottete davon. Dabei ließ er seinem Hinterteil einen grauenhaft stinkenden Furz entweichen. Weiß und still wie zwei weiße Muscheln lagen Qians Ohren auf dem Boden. Zhao Jia dachte an die Worte von Großmutter Yu. Als dieser der unvergeßlichen Prostituierten ihr exquisites linkes Ohr abgeschlagen hatte, hatte er das Gefühl gehabt, sich einfach nicht davon trennen zu können. Am Ohrläppchen hing noch ein goldener Ohrring, in den eine herrliche, glänzende Perle eingefaßt war. Das Gesetz habe es leider nicht zugelassen, sagte sein Meister, daß er sich dieses wunderschöne Ohr in die Tasche steckte und so hatte er es mit großem Bedauern auf den Boden geworfen. Daraufhin habe der völlig durchgedrehte Mob wie eine Flutwelle die dichten Reihen der Wachsoldaten durchbrochen und sich auf die Tribüne gestürzt. Die wildgewordene Menge hatte sogar die Raubvögel verschreckt. Vermutlich wollten sich die Leute das Ohr wegen des goldenen Ohrrings unter den Nagel reißen. Sein Meister hatte erkannt, daß die Situation eskalierte und der Frau geistesgegenwärtig auch das andere Ohr abgeschnitten und weggeschleudert, worauf sich die Menge wieder zerstreute. Der Meister war wirklich ein intelligenter Mann gewesen!
Qian Xiongfeis Zustand war bedenklich geworden. Zhao Jia wollte jetzt zum vierhundertsiebenundneunzigsten Schnitt ansetzen. Nach den Vorschriften blieben ihm dafür zwei Möglichkeiten: entweder schnitt er dem Verurteilten beide Augen aus oder er trennte ihm die Lippen ab. Qians Lippen waren allerdings schon so zerfetzt, daß er es für sinnvoller hielt, ihm die Augen auszustechen. Er wußte, daß Qian zu der Sorte Männer gehörte, die die Augen bis zum letzten Moment offenhielten. Doch wozu sollte ihm das nützen – die Augen offenhalten, um bis zuletzt zu demonstrieren, daß man sich nicht mit der Ungerechtigkeit seiner Strafe abfand? »Bruder, ich kann dich leider nicht nach deiner Meinung fragen. Ich steche dir die Augen aus und mache dich zu einem guten Geist, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. Wenn die Augen nichts mehr sehen, hat die Seele ihren Frieden, und so wirst du auch im Reich der Schatten nicht mehr rebellieren. Rebellion ziemt sich weder im Diesseits noch im Jenseits. Ganz gleich, wo du bist, Rebellen sind nirgendwo gern gesehen«, sagte Zhao Jia vor sich hin.
Als sich das Messer näherte, kniff Qian Xiongfei plötzlich die Augen zu. Damit hatte Zhao Jia nicht gerechnet. Er war seinem Opfer für dessen Kooperation überaus dankbar, denn selbst für einen hartgesottenen Henker war es kein Zuckerschlecken, jemandem ein paar leuchtende Augen auszustechen. Er nutzte diesen günstigen Augenblick und fuhr mit dem Messer am Rand der Augenhöhle entlang ... »Nummer vierhundertsiebenundneunzig«, zählte er mit schwacher Stimme.
»Schnitt ... vierhundertsieben ... vierhundertsiebenundneunzig.« Die Stimme des Lehrlings war noch kraftloser als die seine.
Als er nun das Messer hob, um sich an das zweite Auge zu machen, öffnete sich das Auge groß und weit und gleichzeitig schrie Qian Xiongfei ein letztes Mal laut auf. Bei diesem Schrei fuhren dem Henker kalte Schauer über den Rücken. In den Reihen des Heeres entstanden Löcher; Dutzende von Soldaten fielen ohnmächtig zu Boden. Zhao Jia brachte es einfach nicht fertig, sein Messer gegen dieses brennende Auge zu führen. Das Auge sandte keine Lichtstrahlen aus, sondern glühendheiße Dämpfe. Seine Hand brannte ohnehin schon wie Feuer, er konnte kaum mehr den rutschigen Messergriff halten. Still betete er vor sich hin: Bruder, mach dein Auge zu ... aber Qian tat ihm den Gefallen nicht. Zhao Jia hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sein Herz zu Stahl werden zu lassen und zuzustechen. Als das Messer das Auge entlang der Augenhöhle ausschnitt, machte es ein extrem feines, schabendes Geräusch. Weder Yuan Shikai noch die Offiziere, die starr vor Schrecken neben ihren Pferden standen und bei denen
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