Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Bing ritt der Sänfte auf einem kränklichen, dunkelbraunen Pferd voran. Die Fesseln des Pferdes waren vom Harnisch ganz wundgescheuert und grünlich schien die Haut unter dem Fell hervor. Das magere, kantige Hinterteil des Tieres war voll gelblicher Exkremente. Der Präfekt sah mit einem Blick, daß es sich um einen ehemaligen Ackergaul handelte, der nun plötzlich zum Leibpferd des Generals Yue aufgestiegen war – armes Tier! Vor dem Pferd fuchtelte ein junger Mann mit rotgefärbtem Gesicht mit dem Stiel einer Hacke herum. Hinter dem Pferd ging gemessenen Schrittes ein junger Mann mit schwarzgefärbtem Gesicht, der ebenfalls ein Bauerngerät in der Hand hielt. Offenbar stellten die beiden die traditionellen Begleiter General Yue Feis dar, Zhang Bao und Wang Heng. Sun Bing selbst saß sehr gerade auf dem Pferd, hielt in der einen Hand die Zügel und in der anderen seinen Dattelholzstock. Seine ganze Haltung wirkte extrem gekünstelt. Eine solche Haltung nahm man ein, wenn man unter kaltem Mondlicht, den Wind im Gesicht, mit einem guten Rennpferd über die weiten Ebenen der Grenzgebiete galoppierte. Schade nur, dachte sich der Präfekt, zu schade, daß es hier kein Rennpferd gibt, sondern nur einen alten Gaul mit Durchfall. Es gibt auch keine Steppe, sondern nur eine holprige Straße, von der der Staub aufwirbelt, auf der ein tapsiges Huhn nach ein paar Körnern sucht und in deren Seitengassen ein paar magere Köter herumstreunen .... Schließlich erreichten alle die Mitte des Dorfes, wo auf dem Boden ein paar hundert Männer, alle mit roten Turbanen und roten Hüftschärpen bekleidet, still und bewegungslos wie Buddhafiguren, vor einer aus Lehmziegeln errichteten Bühne saßen. Farbenfroh kostümierte Schaupieler trugen im traurigen, bedächtigen Ton der Katzenoper einen Gesang vor, dessen mystischer Inhalt selbst für den Präfekten, den in den höchsten Ranglisten des Palastexamens geführten Doktor, dunkel blieb:
»Von Süden her fegt ein schwarzer Sturm über das Land,
Es ist der Geist der weißen Katze, befreit von Kapitän Hong.
O Geist der weißen Katze
Mit deinen roten Augen und weißen Haaren
Du willst uns das Blut aussaugen
Komm, Laozi, zeig deine übernatürlichen Kräfte
Laßt uns den heiligen Boxkampf üben, zur Rettung der Dynastie,
Die Geister aller weißen Katzen vernichten,
Ihnen das Fell abziehen und die Augen ausstechen,
Damit die himmlichen Lampen wieder brennen ...«
Vor einer Strohhütte brachte Sun Bing sein Pferd zum Stehen und stieg ab. Das Tier schüttelte seine struppige Mähne, hustete mehrmals und knickte mit den Hinterbeinen ein, um einen Haufen flüssigen Dung von sich zu geben. Zhang Bao band es an einem alten Weidenbaum fest, während Wang Heng seinem Meister den Dattelholzstock abnahm. Sun Bing warf einen Blick auf die Sänfte des Präfekten. In diesem Blick lag ein Ausdruck, den Qian Ding als eine Mischung aus Arroganz und Dummheit empfand. Die Träger setzten die Sänfte ab und hoben den Vorhang und Qian Ding stieg heraus. Er hob seine Ärmel, damit sie nicht schmutzig wurden. Sun Bing warf sich in Positur und betrat die Hütte. Der Präfekt folgte ihm.
In der Hütte beleuchteten zwei Kerzen eine Heiligenfigur mit besticktem Gewand und Pfauenfeder. Sie trug einen schönen Kinnbart und erinnerte ein bißchen an Sun Bing und auch an den Präfekten. Durch seine Beziehung mit Sun Meiniang kannte sich Qian Ding bestens mit der Katzenoper aus. Es fiel ihm nicht schwer, die Figur als Changmao, den Patron und Gründer dieses Opernstils, zu identifizieren. Changmao mußte hier offenbar als Gottheit der Boxer für Frieden und Gerechtigkeit herhalten. Kaum, daß sie die Hütte betreten hatten, ertönten laute, respektvolle Begrüßungsrufe für den General. Qian Ding sah sich um und erkannte vier rote und vier schwarze Kindergesichter. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er sah, daß die Kinder rote und weiße Papierkleider trugen und kurze Axtstiele in den Händen hielten. Qian Dings Verachtung für Sun Bing wuchs. Hättest du dir nicht wenigstens etwas Neues einfallen lassen können, Sun Bing, dachte er bei sich. Was du zu bieten hast, ist doch nicht mehr als die armselige Ausstattung einer Gruppe von Wanderschauspielern. Doch er wußte nur zu gut, daß die Deutschen nicht dieser Auffassung waren, und auch der Hof oder Seine Exzellenz Yuan nicht. Noch weniger die dreitausend Bewohner Masangs und die Kinder in dieser Hütte, und am allerwenigsten
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