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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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überlasse ich ganz dir.«
    Von draußen ertönt ein Schrei, und Qian Ding eilt besorgt hinaus. Es scheint, als würde er bloß seiner Pflicht gehorchen, aber die Situation ist ihm wohl ziemlich peinlich. In wie vielen Opern habe ich solche Situationen schon gesehen und gespielt! Und jetzt erlebe ich sie selber. Die Frau bläst die Kerzen wieder aus, so daß nur der Mond das Zimmer erhellt.
    Verlegen nehme ich auf einem Hocker in der Ecke Platz. Mein Gaumen ist trocken, meine Kehle rauh. Als könne sie Gedanken lesen, bringt mir die Gnädige Frau eine Tasse kalten Kräutertee und hält sie mir hin. Ich zögere einen Moment, doch dann greife ich zu und sage: »Danke, Gnädige Frau.«
    »Ich hätte nicht gedacht, daß du das Zeug zu einer Heldin hast«, sagt sie in leicht sarkastischem Ton.
    Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.
    »Wie alt bist du?«
    »Ich bin vierundzwanzig Jahre alt.«
    »Ich habe gehört, daß du ein Kind erwartest?«
    »Ich bin nur ein einfaches Mädchen des Volks, jung und unwissend. Falls ich die Gnädige Frau beleidigt habe, hoffe ich, daß Ihr mir großherzig vergeben könnt. Man sagt doch: ›Der Kleine kann den Großen nicht beleidigen.‹ Und: ›Das Herz des Edlen ist wie das Meer‹.«
    »Wie gut du zu reden verstehst.« In ernstem Ton fügt sie hinzu: »Kannst du mir garantieren, daß das Kind in deinem Bauch von Seiner Exzellenz ist?«
    »Ja, das kann ich.«
    »Gut«, sagt sie. »Möchtest du gehen oder bleiben?«
    »Ich möchte gehen«, sage ich ohne Zögern.

5.
    Ich stehe neben dem Torbogen mit Gedenkinschriften vor dem Yamen und spähe besorgt nach drinnen. Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Die Tragödie, die sich hier abgespielt hat, war echt; aber bald wird sie zum Stoff von Operndramen werden, der von Mund zu Mund und von Generation zu Generation weitergegeben und dadurch Legende werden wird. In der vergangenen Nacht hat mich die Gnädige Frau gedrängt, die Stadt zu verlassen, um der nahenden Katastrophe zu entkommen, sie hat mir sogar noch ein halbes Pfund Silbergeld in die Hand gedrückt. Aber ich bin nicht geflohen und habe ihr gesagt, daß ich das nicht tun werde. Ich bin hier verwurzelt und werde hier sterben, auch wenn die Stadt in Schutt und Asche untergeht.
    Alle Leute hier wissen, daß ich Sun Bings Tochter bin und sie beschützen mich wie die Henne ihr Küken. Alte, weißhaarige Mütterchen sind zu mir gekommen und haben mir Eier in die Hand gelegt, die noch warm waren, und als ich sie nicht annehmen wollte, haben sie sie mir in die Tasche gesteckt und in weinerlichem Ton gesagt: »Iß, Mädchen, du mußt auf deine Gesundheit achten ...«
    Ich weiß genau, was in ihnen vorgeht. Bevor mein Vater in Schwierigkeiten geriet, mußten die Frauen der Präfektur, ganz gleich ob junge oder alte, ob ehrbare Damen oder Prostituierte aus den Seitengassen, nur meinen Namen hören, und schon fletschten sie haßerfüllt die Zähne und hätten mich am liebsten totgebissen. Sie waren neidisch auf mein Verhältnis mit dem Präfekten, neidisch auf mein unbeschwertes Leben, selbst auf meine großen Füße, die springen und klettern können, Füße, die der Präfekt so sehr mochte. Vater, seitdem du zu den Waffen gegriffen hast und ein Rebell geworden bist, haben sie ihre Haltung mir gegenüber geändert. Nach deiner Verhaftung und Einkerkerung sind sie mir gegenüber sogar noch freundlicher geworden. Und seit auf dem Platz vor der Tongde-Akademie die Plattform steht und überall die offizielle Verlautbarung aushängt, daß du dort die Sandelholzstrafe erleiden sollst  – ach, Vater, seitdem behandeln sie mich alle wie ein bedauernswertes kleines Kind.
    Ach, Vater! Wir hatten uns einen so schönen Rettungsplan ausgedacht, und fast hätte es funktioniert  – wenn du dich nicht im letzten Moment so unvernünftig aufgeführt hättest. Schlimm genug, Vater, aber nun sind vier Bettler deinetwegen umgekommen. Wenn du ihre Namen auf den Gedenktafeln vor dem Yamen lesen würdest, müßte dir das Herz bluten. Links stehen die Namen des Achten Zhu und des Kleinen Luanzi, rechts stehen der von Kleiner Lianzi, der des Siebten Kleinen Hou und der seines Affen (ja, nicht einmal den Affen haben sie verschont!).
    Allmählich geht die Sonne auf, doch im Yamen ist es noch totenstill. Ich nehme an, daß ich noch bis zum Mittag warten muß, bevor sie meinen Vater aus seiner Todeszelle herausbringen. Da kommt aus der dem Yamen gegenüberliegenden Gasse der Familie Dan eine Gruppe von

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