Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
legt sich über die Bambusblätter und durchnäßt meine Kleidung, die ohnehin schon feucht von meinem Angstschweiß ist. Wenn wir nicht bald etwas unternehmen, wird es Tag, lieber Gevatter Zhu, denke ich ungeduldig. In diesem Moment höre ich Lärm: Schreie, Weinen, Gongschläge. Unmittelbar darauf nehme ich einen roten Lichtschein im Yamen wahr.
Ein kleiner Mann in Dienstuniform stiehlt sich aus dem Westlichen Salon des Yamen und kommt über einen kleinen Pfad zu uns geschlichen. Er bedeutet uns mit einer stummen Geste, ihm zu folgen. Wir gehen vorbei am Westlichen Salon, am Kornspeicher, am Büro des Ersten Sekretärs, am Büro für diplomatische Angelegenheiten, bis wir den Tempel für die Gefängnisgötter erreichen. Dahinter ist das Gefängnis selbst.
Im vorderen Hof sehe ich ein Feuer brennen, die Flammen lodern mehrere Meter hoch auf. Es kommt von der Küche des Speisesaals. Die Luft ist erfüllt von schwarzem Rauch, der uns in die Kehlen beißt. Ein Chaos ist ausgebrochen. Alles rennt und schreit durcheinander, wie wenn man mit einem Eisenstab in ein Krähennest gestochen hat. Soldaten kommen herbeigelaufen, die Wassereimer hin und her schleppen. Wir nutzen die Gelegenheit, um uns am Gefängnis für minder schwere Verbrecher vorbeizustehlen, dann am Frauengefängnis. Wir haben das Gefühl, als ob unsere Füße geölt seien, wir huschen schnell wie die Katzen entlang der Schatten der Gebäude. Ungesehen gelangen wir in den Trakt der zum Tode Verurteilten. Dort herrscht ein bestialischer Gestank. Ratten und Katzen jagen durcheinander und die Flöhe sind groß wie Erbsen. Es gibt nur eine niedrige Tür, keine Fenster, und man sieht die Hand nicht vor den Augen.
Der Uniformierte öffnet das Schloß und flüstert: »Schnell, schnell!« Der Achte Zhu hält das Säckchen mit den Glühwürmchen hoch und erleuchtet mit dessen grünlichem Lichtschimmer den Raum. Ich erblicke meinen Vater, der schon keinem menschlichen Wesen mehr ähnelt. Das Gesicht ist grün und blau, die Lippen sind blutverkrustet. »Vater ...!« entfährt mir ein Schrei, aber eine kräftige Hand hält mir den Mund zu.
Mein Vater ist in Ketten. Die Ketten sind an einem riesigen Stein in der Mitte des Raumes befestigt. Im schwachen Schein des Glühwürmchenlichts schließt der Uniformierte die Schlösser der Ketten auf. Der Kleine Berg legt schnell seine Überkleider ab, nimmt den Platz meines Vaters ein, und läßt sich anketten. Die Bettler drängen meinen Vater, sich die Kleider des Kleinen Bergs anzuziehen, aber er will nicht. Er schreit nur mit kaum verständlicher Stimme: »Was habt ihr vor? Was soll das werden?«
Der Uniformierte hält ihm den Mund zu, und ich sage leise: »Vater, sei still. Ich bin es, deine Tochter Meiniang. Wir sind gekommen, um dich zu befreien.«
Mein Vater begreift immer noch nicht und hört nicht auf, Lärm zu machen. Der Achte Zhu verpaßt ihm einen Schlag auf die Schläfe, und er fällt mit einem Stöhnen in Ohnmacht. Der Kleine Luanzi bückt sich, zieht ihn an den Armen hoch und packt ihn sich auf den Rücken. Der Uniformierte zischt: »Raus hier!«
Wir laufen, so schnell wir können, und es gelingt uns, in der allgemeinen Verwirrung den Gefängnistempel zu erreichen. Überall wimmeln Leute mit Wassereimern, und auf der Treppe vor dem Zeremonientor steht der Präfekt und ruft: »Jeder geht zurück an seinen Platz! Keine Panik!«
Wir bleiben im Tempelschatten und wagen uns nicht zu rühren.
Einige rote Laternen, die offenbar eine hochrangige Persönlichkeit begleiten, tauchen vor dem Zeremonientor auf. Dahinter drängt sich die Leibgarde. Das kann niemand anders als Yuan Shikai sein. Wir sehen, wie Qian Ding auf ihn zueilt, sich verneigt und laut ruft: »Bitte vergebt Eurem Untergebenen, daß ein Feuer ausgebrochen ist und Euch in Eurer Nachtruhe gestört hat. Ich verdiene tausend Tode, Exzellenz!«
Wir hören den Befehl Yuan Shikais: »Schickt sofort jemanden zu den Gefangenen, um sicherzustellen, daß niemand geflohen ist!«
Wir sehen, wie sich der Präfekt eilig erhebt und mit seiner Gefolgschaft in Richtung Gefängnis läuft.
Wir halten die Luft an und drücken uns an den Boden. Wir hören den Uniformierten von eben durch den Hof schreien und mit dem Schlüsselbund rasseln. Wir warten auf eine günstige Gelegenheit, uns davonzumachen, aber Yuan Shikai und seine Leibgarde stehen mitten im Hof und machen keine Anstalten, sich fortzubewegen. Schließlich sehen wir, daß Qian Ding zurückkommt, und mit
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