Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
meinen Vortrag mit einem nostalgischen Kommentar zu unterbrechen.
»Auch der Habitus unseres Meisters, die Art und Weise wie er ging und stand, näherte sich in späterer Zeit immer mehr dem Katzenhaften. Es war, als hätte die Seele seiner toten Katze von ihm Besitz ergriffen. Selbst seine Augen veränderten sich: am Tag waren sie nur noch Schlitze, nachts waren sie groß und leuchteten. Schließlich starb der Meister. Der Legende nach verwandelte er sich auf dem Sterbebett in eine riesige Katze. Dann seien ihm Flügel gewachsen, er sei zum Fenster hinausgeflogen, bis zum Mond hinauf. Mit seinem Tod wurde der Brauch des professionellen Trauergesangs bei Beerdigungen zunächst eingestellt. Die Leute vermißten ihn bei den Trauerfeiern, doch sein ergreifender Gesang klang in ihren Herzen fort.«
4.
»Zur Zeit der Regierungsdevisen Jiaqing und Daoguang des vergangenen Jahrhunderts gab es in unserer Gegend da und dort kleinere Truppen, die den Gesang unseres Meisters imitierten und damit den ursprünglich für Trauerfeiern bestimmten Gesang zu einem von diesen Feiern unabhängigen Schauspiel machten. Üblicherweise bestand eine solche Formation nur aus einem Paar und einem Kind; der Mann begann zu singen und die Frau fiel ein, und das Kind, mit einem Katzenfell bekleidet, unterbrach ihren Gesang hin und wieder mit einem Miauen. Manchmal sangen sie Klagelieder für wohlhabende Trauergesellschaften – wohlgemerkt, zu dieser Zeit nannte man das nun nicht mehr »Trauerklagen«, sondern »Klagelieder« –, doch meistens traten sie auf Märkten auf und verdienten sich so ihren Lebensunterhalt. Mann und Frau sangen verschiedene Rollen, während das Kind allerlei Katzenlaute nachmachte und bei den Zuhörern Geld einsammelte. Zum damaligen Repertoire gehörten kurze Stücke wie »Lan Shuilian, die Wasserverkäuferin«, »Die Witwe Ma trauert am Grab«, »Die dritte Schwester Wang denkt an ihren Geliebten« und dergleichen. Weil wir Darsteller der Katzenoper immer arm waren, fühlen wir uns mit den Bettlern verbunden. Sonst wären wir auch nicht die wahren Jünger unseres Meisters.«
»Das kann man wohl sagen«, meint Kleiner Berg.
»Diese Art der Aufführungspraxis setzte sich über viele Jahrzehnte hin fort. Der Gesang wurde damals nicht von Instrumenten begleitet, und es gab keine professionellen Schaupieler, auch wenn man die Darbietungen als Theater bezeichnete. Außer den Familien, von denen ich eben sprach, gab es noch arme Bauern, die außerhalb der Saat- und Erntezeit mit kleinen Gongs, wie sie die Bonbonverkäufer haben und den Klapperhölzern, die die Tofuverkäufer verwenden, ein paar Verse intonierten. Das taten sie in den Hütten beim Strohsandalenflechten oder zu Hause in familiärer Runde auf dem Kang, um die Einsamkeit zu vertreiben und den Schmerz ihrer Armut. Diese Gongs und Klapperhölzer waren die ersten Begleitinstrumente unserer Katzenoper.
Ich war damals noch jung und voller Energie und kann ohne Übertreibung behaupten, daß ich die schönste Stimme der achtzehn Dörfer Dongbeis hatte. Immer mehr Leute fanden sich zusammen, um zu spielen und zu singen und damit stieg die Bekanntheit unserer Kunst. Zuerst hatten wir nur Zuhörer aus unserem eigenen Dorf, doch allmählich kamen auch die Leute aus den Nachbardörfern. Mit dem Zuwachs an Zuhörerschaft reichte der Platz auf den Kangs und in den engen Hütten nicht mehr aus, und man verlagerte die Aufführungen in die Höfe und auf die Dreschplätze. Dort jedoch kann man schlecht im Sitzen singen, man muß sich bewegen, und wenn man sich bewegt und Rollen spielt, braucht man auch die entsprechenden Kostüme und muß sich die Gesichter schminken. Und ein kleiner Gong und eine Klapper reichen dann auch nicht mehr; man braucht richtige Musikinstrumente. Damals gab es Gruppen von Gelegenheitsschauspielern, die aus anderen Präfekturen stammten und bei uns auftraten. Da war zum Beispiel eine Truppe aus dem Süden der Provinz, die man die »Eselsoperntruppe« nannte, weil sie üblicherweise auf kleinen Eseln über die Bühne ritten. Dann gab es die »Glissando-Truppe« aus dem Osten der Provinz, deren Gesang sich durch abrupt abfallende Töne auszeichnete, Töne auf ständiger Berg- und Talfahrt sozusagen. Schließlich gab es noch die »Hahnentruppe« aus dem Grenzgebiet zwischen Shandong und Henan, die zwischen den Gesängen kikerikiten. All diese Theatertruppen hatten Musikinstrumente dabei, Erhus, Flöten, Suonas, Trompeten. Diese Instrumentierung
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