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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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standhalten. Warum ich das betone? Weil vor einigen Jahrzehnten das Gerücht umging, der ehrenwerte Gründervater unserer Gesangsschule sei ursprünglich vom Gesang dieser Frauen inspiriert worden, und er hätte lediglich auf ihrer Tradition aufgebaut. Um diesen Gerüchten nachzugehen, habe ich mich in die Heimat des Konfuzius, nach Qufu, begeben, wo man heute noch diese Frauen findet, die professionell Klagelieder singen. Ich habe mich davon überzeugt, daß diese dürftigen Verse und Lieder nichts, aber auch gar nichts mit der hohen Kunst unseres Gründervaters gemein haben. Es ist, als wolle man den Himmel mit der Erde vergleichen oder einen Phönix mit einer Henne.
    Wenn unser Gründervater seine Gesänge improvisierte, ging er stets auf die Lebensgeschichte des Verstorbenen ein. Er hatte das Talent, immer die passenden Worte zu finden, sie sprudelten ihm elegant aus dem Mund, in Reimen, schlicht und eingängig, und doch von vollendeter Schönheit. Seine Trauergesänge waren gesungene Elogen auf die Toten. Um die Bedürfnisse der Trauergemeinde zu befriedigen, beließ es unser verehrter Urahn nicht dabei, das Leben und Wirken des Verschiedenen zu besingen, sondern reicherte sein Repertoire mit Betrachtungen über das Leben und den Tod im allgemeinen an, so wie wir es von der Katzenoper in ihrer heutigen Form kennen.«
    Als ich an dieser Stelle meiner Erzählung angekommen bin, sehe ich, daß auch der Präfekt vor der Zelle mit geneigtem Kopf lauscht. Dann hör gut zu, Qian Ding, es wird nicht schaden, wenn du mir zuhörst. Wer die Geschichte der Katzenoper nicht kennt, der versteht nichts von der Seele der Bewohner Gaomis. Absichtlich hebe ich etwas die Stimme, auch wenn mir der Hals schon brennt und die Zunge schmerzt.
    »Wie ich anfangs bereits erwähnt habe, hatte unser Gründervater eine Katze, eine Zibetkatze, die ihm so viel bedeutete wie dem alten Guan Yu sein fuchsrotes Pferd. Die Zuneigung basierte auf Gegenseitigkeit. Die Katze war seine treue Begleiterin. Wann immer er auf einer Beerdigung sang, saß sie vor ihm und lauschte aufmerksam. Aber mehr noch: An den emotionalsten Stellen begleitete sie seine Melodie mit einem harmonischen Miauen. Die Stimme dieser Katze war so außergewöhnlich wie die Stimme unseres Meisters. Und da er und die Katze ein unzertrennliches Paar waren, verliehen ihm die Leute damals den Namen »Mao« wie »Katze«, anstelle von »Mao« wie »exzellent«, was sein ursprünglicher Name war. Dieses Wortspiel ist bis heute in unserem Landstrich überliefert ...«
    »Ach, zu gerne würde ich jetzt dem Katzengesang des Chang Mao lauschen«, sagte der Kleine Berg gerührt.
    »Später starb die Katze. Es gibt verschiedene Versionen der Geschichte, wie die Katze gestorben ist. Manche sagen, die Katze sei an Altersschwäche gestorben, andere behaupten, sie sei von einem Sänger aus dem Nachbarbezirk, der unserem Patron den Erfolg neidete, vergiftet worden; wieder andere erzählen, eine von Chang Mao zurückgewiesene Verehrerin hätte sie erschlagen. Kurz und gut: Sie starb, und Chang Mao überkam eine maßlose Trauer. Drei Tage und drei Nächte lang hielt er die tote Katze in den Armen und weinte. Sein Weinen war kein gewöhnliches Weinen. Er weinte singend, und er weinte so lange, bis ihm Blut statt Tränen aus den Augen lief.
    Nachdem sich seine Trauer etwas gelegt hatte, fertigte sich unser Gründervater mit großer Sorgfalt zwei Katzenkostüme an. Das kleinere Kostüm bestand aus einem einzigen Wildkatzenfell, das er an gewöhnlichen Tagen auf dem Kopf trug, die Ohren flatternd, der Schwanz an seinem Nacken herunterbaumelnd. Das größere Kostüm war ein aus einer Vielzahl von Katzenfellen zusammengenähter Mantel mit Schleppe, der an ein prachtvolles Zeremoniengewand erinnerte und hinten einen langen Schwanz hatte. In diesem Mantel sang er fortan auf Trauerfeiern.
    Mit dem Tod der Katze ging ein großer Wandel in Chang Maos Gesangsstil einher. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte zu seinem Repertoire viel Fröhliches und Humorvolles gehört, doch jetzt intonierte er nur noch Melodien der Trauer. Auch die Form seines Vortrags änderte sich: Zwischen seine Trauergesänge schob er immer wieder eine Interlude von mal friedlichem, mal kummervollem, mal verzweifeltem, kurz gesagt, einem alle Register umfassenden Katzengejaule ein. So hat sich das besondere Merkmal unserer Katzenoper herausgebildet, das wir heute noch pflegen.«
    »Miau ... Miau ...« Kleiner Berg konnte sich nicht beherrschen,

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