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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Gaomi ein talentierter Exzentriker namens Chang Mao, ein Kesselflicker. Er lebte allein, ohne Frau und Kinder, nur mit seiner schwarzen Katze war er auf Gedeih und Verderb verbunden. Tagein, tagaus, zog er mit seiner Katze auf der Schulter durch die Straßen, um Töpfe und Pfannen zu reparieren. Er war sehr geschickt und ein gutherziger Mensch, was ihn im ganzen Bezirk beliebt machte. Eines Tages nahm er an der Beerdigung eines Freundes teil. Als er am Grab stand und an all das dachte, was dieser Freund ihm bedeutete, überwältigte ihn die Trauer, und er brach in einen Klagegesang aus. Er sang so herrlich und gefühlvoll, daß die die Angehörigen ihre Tränen vergaßen und die Schaulustigen verstummten. Alle lauschten feierlich seinem Gesang und waren zutiefst bewegt. Niemand hätte erwartet, daß der Kesselflicker Chang Mao mit einer so schönen Stimme gesegnet war.
    Es war ein erhabener Moment in der Geschichte unserer Katzenoper. Chang Maos Fähigkeit, seinen aufrichtigen Gefühlen Ausdruck und Stimme zu verleihen, stand fraglos weit über dem üblichen Klagegeheul der Frauen und dem Geschwätz der Männer, denen es die Ehre verbot, Tränen zu vergießen. Sein Gesang spendete den Trauernden Trost und den Gästen Freude, er revolutionierte die Trauerzeremonie und eröffnete den Leuten eine ganz andere Welt. Die gläubigen Buddhisten meinten, die Insel der Glückseligkeit vor sich zu sehen. Man fühlte sich, als stiege man in ein reinigendes Bad und trinke eine Kanne heißen Tees, der wohlig den Schweiß aus jeder Pore treten läßt. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bald wußte jeder, daß Chang Mao weitaus größere Talente besaß, als Töpfe und Pfannen zu flicken, daß er eine goldene Kehle hatte, ein ausgezeichnetes Gedächtnis und eine unglaubliche theatralische Eloquenz. Immer mehr Familien baten ihn, an ihren Trauerfeiern teilzunehmen und am Grab ihrer Verstorbenen zu singen und zu rezitieren, um die toten Seelen zu besänftigen und den Angehörigen ihre Trauer zu erleichtern. Anfangs lehnte er kategorisch ab. Es kam ihm absurd vor, für jemanden zu singen, den er gar nicht gekannt hatte. Doch die Leute baten ihn nicht nur einmal, sie baten ihn noch ein zweites Mal und ein drittes Mal. Schließlich war es ihm kaum mehr möglich, nein zu sagen. Liu Xuande mußte schließlich Zhu Geliang auch dreimal ersuchen, ihm Hilfe zu leisten, bis dieser demütig die Aufgabe annahm. Außerdem handelte es sich ja um Nachbarn aus dem gleichen Landstrich, er konnte nicht so tun, als ob er nichts mit ihnen zu tun hätte. Forschte man in den Stammbäumen nach, dann wären sie letztendlich alle mehr oder weniger miteinander verwandt, wenn er es nicht für die Lebenden tat, dann tat er es für die Toten. ›Ein toter Mensch ist wie ein Tiger, ein toter Tiger ist wie ein Schaf‹  – Tote sind immer ehrenwert, sagte er sich, verachtenswert können Lebendige sein. Also ging er hin. Er tat es einmal, zweimal, dreimal ... Jedes Mal wurde er mit großer Herzlichkeit begrüßt und als Ehrengast empfangen. Als einfacher Kesselflicker war er gerührt und geschmeichelt von der Ehre, die man ihm erwies, und gab sein Bestes. Und da Übung bekanntlich den Meister macht, wurde seine Kunst immer unübertrefflicher. Sein Ehrgeiz war angestachelt worden, und er bat Ma Daguan, den gelehrtesten Mann des Kreises, ihm historische Anekdoten zu erzählen, die er in sein Repertoire aufnahm. Jeden Morgen ging er zum Fluß, stellte sich ans Ufer und übte seine Stimme.
    Zuerst waren es nur einfache Familien gewesen, die ihn um eine Darbietung bei ihren Trauerfeiern baten. Nachdem er zu einer gewissen Berühmtheit gelangt war, fragten zunehmend auch wohlhabende Familien bei ihm an. Wenn er sang, war es ein Festtag für ganz Dongbei. Die Kinder an der Hand und die Alten am Arm, scheuten die Leute sich nicht, viele Kilometer zu Fuß zurückzulegen, um dabeisein zu können. Die Trauerfeiern, bei denen er nicht dabei war, waren dagegen menschenleer und langweilig  – ganz gleich, ob dort der Wein in Strömen floß und die Tische sich unter dem Essen bogen. So warf Chang Mao schließlich sein Kesselflickerwerkzeug weg, um ein professioneller Meister des Trauergesangs zu werden.
    Es heißt, daß es auch in den Tempeln des Konfuzius professionelle Klagesänger gegeben habe. Dabei handelte es sich um Frauen mit schönen Stimmen, die Trauernde spielten. Ihr Wehklagen konnte dem Vergleich mit den tiefempfundenen Gesängen Chang Maos nicht

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