Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Sicherheit müssen wir Euch bitten, keinen Schritt mehr vor die Hütte zu setzen. Seine Exzellenz Yuan will es so.«
Mein Vater antwortete nicht und lächelte nur spöttisch. Einige Dutzend Soldaten postierten sich um unsere Hütte herum, miau, miau, und bewachten uns wie einen Schatz. Der Offizier blies die Kerzen aus und drängte meinen Vater und mich in die Ecke der Hütte, in die kein Mondlicht drang. Dann fragte er meinen Vater, ob die Sandelholzstäbe schon soweit seien. Mein Vater sagte ja. Der Offizier ging nach draußen und löschte das Feuer mit Wasser. Der Rauch war so stark, daß ich niesen mußte. Im Dunkeln hörte ich meinen Vater sagen, vielleicht zu sich selbst, vielleicht an mich gerichtet: »Das ist ein Wink des Himmels! Der Himmel heiligt die Sandelholzstrafe!«
»Vater, was sagst du da?«
»Schlaf, mein Sohn, wir haben morgen Großes vor.«
»Vater, soll ich dir den Rücken massieren?«
»Nicht nötig.«
»Soll ich dich kratzen?«
»Schlaf jetzt!« sagte mein Vater unwirsch.
»Miau, miau.«
»Schlaf!«
5.
Bei Tagesanbruch verlassen die Soldaten der kaiserlichen Armee ihre Posten um unsere Hütte und werden von deutschen Soldaten abgelöst. Auf dem Exerzierplatz stellen sich unsere kaiserlichen und die deutschen Soldaten in Reihen auf. Eine Reihe sieht nach außen, die nächste nach innen, die nächste wieder nach außen, und so fort. Sechs deutsche und sechs von unseren Soldaten nehmen vor unserer Hütte Aufstellung, vier vor der hohen Plattform und vier vor der Bühne. Von den vier neben unserer Hütte sind jeweils zwei von der deutschen und von Yuan Shikais Armee. Sie stehen alle mit dem Blick nach außen. Sie scheinen miteinander zu wetteifern, wer aufrechter stehen kann, alle sind kerzengerade, miau, miau, wirklich erstaunlich.
Die Hände meines Vaters bewegen die Gebetskette. Aber jetzt halten sie inne. Jetzt sieht mein Vater aus wie ein meditierender Mönch. Amitabha, Amitabha. Meine Frau sagt das ständig. Ich lasse seine Hände nicht aus den Augen. Miau, miau, das sind wahrhaftig keine gewöhnlichen Hände, das sind die Hände der Qing-Dynastie, die Hände unseres großen Reiches, die Hände der Kaiserinwitwe und des erhabenen Kaisers, er lebe hoch. Ja, wenn die Kaiserinwitwe Cixi und der erhabene Kaiser jemanden töten wollen, dann bedienen sie sich der Hände meines Vaters. Wenn Cixi zu meinem Vater sagt: »Ich befehle dir, Henker, geh und töte für mich!«, dann sagt mein Vater: »Zu Befehl!« Wenn der erhabene Kaiser zu meinem Vater sagt: »Ich befehle dir, Henker, geh und töte für mich!«, dann sagt mein Vater: »Zu Befehl!« Die Hände meines Vaters sind wirklich erstaunlich. Wenn er sie stillhält, sind sie wie zwei kleine Vögel. Wenn er sie bewegt, sind sie wie zwei Federn, miau, miau. Ich erinnere mich, daß meine Frau einmal gesagt hat, die Hände meines Vaters seien merkwürdig klein. Wenn man diese Hände betrachtet, weiß man sofort, daß mein Vater kein gewöhnlicher Mensch ist. Wenn er kein Dämon ist, dann muß er ein Heiliger sein. Kann man glauben, daß er mit diesen Händen mehr als tausend Menschen getötet hat? Nein, diese Hände sehen eher aus wie die Hände einer Hebamme, einer »Großmutter des Glücks«. Großmutter des Glücks, Glück der Großmutter, genau. Jetzt wird mir klar, warum mein Vater sagt, daß sie ihn in der Hauptstadt »die Großmutter« nennen. Er ist eine Hebamme. Aber Hebammen sind doch Frauen und mein Vater ist ein Mann, oder etwa nicht? Doch. Ich habe ihn einmal nackt gesehen. Als ich ihn mit dem Waschlappen gewaschen habe, habe ich seinen Pillermann gesehen, eine kleine Mohrrübe, ganz blau vor Kälte, hehe ... Warum lachst du? Hehe ... eine kleine Mohrrübe ... Du Idiot von einem Sohn! Miau, miau, ob wohl Männer auch Geburtshelfer sein können? Macht ein Mann sich als Hebamme nicht lächerlich? Bekommt eine männliche Hebamme nicht die Juwelchen der Frauen zu sehen? Aber riskiert er damit nicht, daß er für so etwas totgeschlagen wird? Ich verstehe es einfach nicht, je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich es. Schluß damit, es reicht, soll sich darüber den Kopf zerbrechen wer, will.
Plötzlich schlägt mein Vater die Augen auf, sieht sich um, hängt sich die Gebetskette um den Hals, steht auf und geht zu dem Topf mit dem Öl. Jetzt spiegeln wir uns beide in der glänzenden Fläche. Er zieht vorsichtig einen der Sandelholzstäbe heraus. Mein Gesicht im Ölspiegel verändert sich, es wird zu einem
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