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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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bemalt; andere haben das Gesicht oder die Ohren rot bemalt, manche die Stirn blau und die Augen gelb; wieder andere haben pechschwarze Gesichter. Ich zucke vor Schreck zusammen und muß an die Truppen denken, die Sun Bing noch vor kurzem angeführt hat. Haben sie sich etwa neu organisiert, um die Kreisstadt anzugreifen? Mit einem Schlag bin ich wieder nüchtern, hastig ordne ich meine Kleider und gehe zu ihnen hin.
    Die Schauspieler stehen um eine riesige rote Holzkiste herum. Auf der Kiste sitzt ein Mann, der sich weiß und gelb geschminkt hat: Die Katze der Gerechtigkeit. Er trägt ein langes, schwarzes Katzenfellgewand über den Schultern, die Ohren seiner Katzenfellmütze sind sorgfältig aufgestellt, an ihren spitzen Enden wachsen feine, weiße Härchen. Auch einige andere tragen Katzenfellüberwürfe oder kleine Katzenfelle auf dem Kopf. Alle machen sie ein sehr feierliches Gesicht, als stünden sie kurz vor einem großen Auftritt. Auf der roten Kiste liegen mit leuchtenden Bändern und roten Quasten geschmückte Waffen, offensichtlich die Requisiten einer professionellen Operntruppe. Ich stoße einen Seufzer der Erleichterung aus: Es handelt sich um die Theaterkompanie von Dongbei. Doch daß diese Katzenstimmensänger ausgerechnet in diese Moment hier auftreten wollen, muß einen besonderen Grund haben. Mit dem Mut und dem Temperament der Leute von Dongbei habe ich ja schon meine Erfahrungen gemacht. Und ich weiß, daß es mit der Katzenoper noch eine besondere Bewandtnis hat: Gewisse Gesänge können die Zuhörer derart mitreißen, daß sie den Verstand verlieren und in Trance fallen ... Bei diesem Gedanken gefriert mir das Blut in den Adern. Vor meinen Augen sehe ich Schwerter und Messer aufblitzen, in meinen Ohren dröhnen die Trommeln und Hörner des Militärs. Liu Pu flüstert mir ins Ohr: »Exzellenz, ich habe so eine Vorahnung ...«
    »Sprich.«
    »Diese Sandelholzstrafe ist ein wie ein Köder, und diese Theaterleute sind wie die Fische, die danach schnappen.«
    Ich behalte die Ruhe, setze ein Lächeln auf und bewege mich, unter dem Schutz Liu Pus, gemessenen Schritts auf sie zu, ganz der würdevolle Präfekt.
    Die Theaterleute sehen mich schweigend an. In ihrem Blick liegt Feindseligkeit.
    »Seine Exzellenz der Präfekt von Gaomi«, stellt mich Liu Pu vor. »Was wollt ihr?«
    Sie schweigen.
    »Woher kommt ihr?« frage ich.
    »Aus dem Bezirk Dongbei.« Der auf der Kiste sitzende Darsteller der Katze der Gerechtigkeit murmelt diese Worte beinahe unverständlich vor sich hin.
    »Was wollt ihr hier?«
    »Eine Vorführung geben.«
    »Und wer hat euch gebeten, ausgerechnet jetzt hier eine Vorführung zu geben?«
    »Der Herr der Katzen.«
    »Wer soll das sein?«
    »Der Herr der Katzen ist unser Herr.«
    »Wo ist er?«
    Der Darsteller der Katze der Gerechtigkeit deutet mit der Hand zur Plattform hinauf auf Sun Bing.
    »Sun Bing ist ein Schwerverbrecher, er ist vom Staat zu dieser Strafe verurteilt worden. Seit drei Tagen wird er bereits der Öffentlichkeit auf dieser Plattform zur Schau gestellt, wie kann er euch zu einem Auftritt hierher bestellt haben?«
    »Dort oben ist nur die leere Hülle seines Körpers, seine Seele jedoch ist bereits nach Dongbei zurückgekehrt«, sagt der Schauspieler träumerisch. »Er hat uns nie verlassen.«
    Ich stoße einen Seufzer aus und sage: »Ich kann gut verstehen, was in euch vorgeht. Auch wenn Sun Bing ein des Hochverrats beschuldigter und verurteilter Verbrecher ist, ist er immer noch der Patron eurer Katzenoper. Daß ihr kurz vor seinem Tod für ihn singen wollt, ist unrecht und billig. Und doch muß ich euch diese Aufführung untersagen. Ihr seid doch alle Söhne dieser Präfektur und ich bin ein Präfekt, der sein Volk liebt wie seine Kinder. Ich bitte euch bei eurem Leben und bei dem eurer Familien, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen und nach Dongbei zurückzukehren. Dort könnt ihr euch nach Herzenslust euren Aufführungen widmen, ohne daß ich mich einmische.«
    Die Katze der Gerechtigkeit schüttelt den Kopf und antwortet in schwermütigem, aber entschlossenem Ton: »Das geht nicht. Der Herr der Katzen hat uns gerufen. Er will, daß wir hier vor ihm auftreten.«
    »Hast du nicht eben gesagt, daß das dort oben nur eine leere Hülle ist und seine Seele längst wieder in Dongbei ist? Ihr wollt doch nicht etwa vor einer seelenlosen Hülle spielen?«
    »Wir gehorchen dem Befehl des Herrn der Katzen«, sagt der Schauspieler, ohne sich im geringsten von

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