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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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chinesischen Medizin wird dafür sorgen, daß er nicht vorzeitig an Erschöpfung krepieren wird. Also, Sun Bing, lebe ruhig weiter. Auch ich habe noch keine Lust zu sterben.
    Erhobenen Kopfes verlasse ich das Gelände der Militärakademie und schreite auf die Hauptstraße hinaus, die mir seltsam fremd vorkommt. Ich kehre in das nächste Wirtshaus ein. Ein Kellner kommt herbeigestürzt, und noch im Laufen verkündet er: »Ein hoher Gast ist da!«
    Der fette Wirt kommt angerollt wie ein bunter Papierball, er strahlt über beide Ohren angesichts dieser unverhofften Ehre. Ich senke den Kopf und betrachte meine Amtskleidung. Es ist einfach unmöglich, meinen Status zu verbergen. Auch wenn ich Zivilkleider angezogen hätte, würde man mich überall erkennen. Ja, ich bin der Präfekt von Gaomi. Jedes Jahr im März zum Fest der Insekten fahre ich persönlich hinaus aufs Land und führe den Pflug, um die Bauern anzuspornen; jedes Jahr zum Qingming-Fest pflanze ich außerhalb der Stadt Pfirsich- und Maulbeerbäume, wie es Brauch ist; an jedem Fünfzehnten eines Monats stelle ich vor der Halle der Volkserziehung einen Tisch auf und unterweise das Volk in den kanonischen Schriften, erteile Lektionen in den konfuzianischen Tugenden der Loyalität, Kindespietät, Menschlichkeit und Gerechtigkeit ... Ich bin ein Präfekt des Volkes. Wenn ich einmal aus dem Amt scheide, werde ich mit Sicherheit einen großen Ehrenschirm von meinem Volk als Geschenk bekommen ...
    »Exzellenz erweisen mir die Ehre Eures Besuchs in meinem bescheidenen Gasthaus ...«, beginnt der Wirt mit steifer Förmlichkeit. »Was darf ich Exzellenz anbieten?«
    Ohne zu überlegen sage ich: »Zwei Schalen süßen Wein und ein Hundebein.«
    »Es tut mir leid, Exzellenz«, sagt der Wirt zerknirscht, »ich habe weder süßen Wein noch Hundefleisch ...«
    »Und warum nicht? Warum gibt es bei dir ausgerechnet diese guten Sachen nicht?«
    »Naja, weil ...« Der Wirt zögert etwas, fährt dann aber entschlossen fort: »Wie Exzellenz vielleicht bekannt ist, gibt es in unserer Stadt niemanden, der besseres Hundefleisch und besseren Wein verkauft als Sun Meiniang, wir anderen können einfach nicht mit ihr mithalten ...«
    Warmer Reiswein, aromatisches Hundefleisch ... die Erinnerung an vergangene Tage wird in mir wach ...
    »Was kannst du mir anbieten?«
    »Exzellenz ... ich habe Hirseschnaps Marke Erguotou im Angebot, und Sesamfladen mit Rindfleisch in Sojasauce.«
    »Gut, dann also zweimal Hirseschnaps, einmal Rindfleisch und noch zwei warme Fladen.«
    »Kommt sofort, Exzellenz.« Der Wirt trottet davon.
    Dem Präfekten von Gaomi war vor der Verhandlung bang, er dachte an die Geliebte, die tapfere Sun Meiniang. Wie die Biene nicht die Blume und der Fisch nicht das Wasser, können die zärtlich Liebenden voneinander nicht lassen ...
    Bald steht das bestellte Menü vor mir auf dem Tisch. Heute schenke ich mir selber ein, nehme den kleinen Krug und fülle den grünlich lasierten Becher mit Schnaps. Nach dem ersten Becher fühle ich mich gleich viel wohler; nach dem zweiten Becher dreht sich mir der Kopf. Nach dem dritten Becher seufze ich laut und die Tränen rinnen mir wie ein Sturzbach die Wangen herab.
    Ich trinke und esse, esse und trinke, bis ich rundum satt bin. Ich sage zum Wirt: »Herr Wirt, seid so gut und schreibt mir das an, ich werde in den nächsten Tagen jemanden zum Bezahlen vorbeischicken.«
    »Es war mir eine Ehre, daß Exzellenz zum Essen in mein bescheidenes Gasthaus gekommen ist.«
    Ich verabschiede mich und gehe hinaus, ich fühle mich so leicht, als würde ich auf Wolken und Nebel reiten.

6.
    Am Morgen des vierten Tages werde ich von einem Diener geweckt. Mein Rausch ist noch nicht ganz verflogen, mein Kopf dröhnt und mir ist schwindlig. Die Ereignisse des gestrigen Tages erscheinen mir wie aus längst vergangenen Tagen, verschwommen und undeutlich. Schwankend gehe ich über den Exerzierplatz. Dem blendenden Licht der Sonne nach zu urteilen, wird es heute wieder schönes Wetter. Als ich das müde Stöhnen Sun Bings auf der Plattform höre, bin ich erleichtert. Er ist also noch am Leben. Liu Pu kommt zu mir und sagt mit geheimnistuerischer Stimme: »Exzellenz ...«
    Ich wende meinen Blick in die Richtung, der sich Liu Pus Mund zuzuwenden scheint, und sehe, daß sich gegenüber, bei der Theaterbühne, eine Gruppe von Leuten versammelt hat. Sie tragen auffällige Kostüme in seltsamen Schnitten, einige haben ihr Gesicht weiß gepudert, die Lippen rot

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