Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
Tiger, mit aufgerissenem Maul und großen Zähnen.
Großen Zähnen, großen Zähnen, großen Zähnen. (Hahaha!)
Weißer Tiger, willst du mich fressen?
Der Tiger sprach: Was sollt ich dich fressen wollen, Dummkopf, es gibt doch genug fette Schweine und fette Schafe.
Wenn du mich nicht fressen willst, Tiger, warum bist du hier?
Der Tiger sprach: Zhao Xiaojia, ich habe gehört, du wünschst dir einen Tigerbart. Hier bin ich. Zieh mir den Bart heraus.
(Hahaha, was für ein Dummkopf!)
Arie »Das Riesenbaby«
aus der Katzenoper Die Sandelholzstrafe
1.
Miau, miau, noch bevor ich sprechen konnte, erlernte ich die Sprache der Katzen.
Meine Mutter hat mir erzählt, daß das längste Barthaar eines Tigers ein wertvoller Schatz ist. Wer in den Besitz dieses Barthaars gelangt, wird die wahre Gestalt der Menschen erkennen. Mutter sagte, alle Menschen auf dieser Welt sind die Reinkarnationen von Tieren. In den Augen desjenigen, der den kostbaren Tigerbart besitzt, gibt es daher keine Menschen mehr. Man sieht auf der Straße, in den Gassen, in den Gaststuben, in den Badehäusern nur noch Kühe, Pferde, Hunde, Katzen und sonstwas alles. Miau, miau. Sie erzählte, daß es einmal einen gab, der in die Mandschurei ging, um sein Glück zu machen. Dort erlegte er einen Tiger und kam so in den Besitz des Bartes. Um ihn auf keinen Fall zu verlieren, umwickelte er ihn sechsfach mit Stoff und nähte ihn mit feinen Stichen in seine wattierte Jacke ein. Als er nach Hause zurückkehrte, fragte seine Mutter: »Mein Sohn, nun bist du so lange im Nordosten gewesen, daß du wohl ein reicher Mann geworden bist?« Der Sohn antwortete: »Reich bin ich nicht geworden, aber einen Schatz habe ich mitgebracht.« Er riß das Stoffpäckchen aus der Jacke, öffnete es vorsichtig und brachte den Tigerbart zum Vorschein, den er stolz der Mutter zeigen wollte. Doch als er den Kopf hob, war seine Mutter verschwunden, nur ein kurzsichtiger alter Hund saß vor ihm. Da erschrak er so sehr, daß er zur Tür hinausrannte. Im Hof stieß er mit einem alten Pferd zusammen, das eine Hacke trug und eine lange Pfeife im Maul hatte. Schmatzend saugte es an seiner Pfeife und stieß aus seinen Nüstern weiße Rauchkringel in die Luft. Der Mann wollte vor Angst über die Mauer springen und davonlaufen, als ihn das alte Pferd bei seinem Kosenamen rief: »Bist du es nicht, kleiner Schatz? Erkennst du etwa deinen alten Vater nicht mehr?« Da erkannte der Mann, daß er von dem Tigerbart verzaubert worden war. Er wickelte ihn hastig wieder ein und vergrub ihn in seiner Jacke – und schon verwandelte sich das Pferd in seinen Vater zurück und der Hund in seine Mutter.
In meinen Träumen wünsche ich mir immerzu, einen solchen Tigerbart zu besitzen. Miau, miau. Jedem, den ich treffe, erzähle ich die Geschichte, von jedem will ich in Erfahrung bringen, woher man so einen Tigerbart wohl kriegen kann. Es heißt, in den großen Wäldern des Nordostens bekomme man ihn. Da würde ich gerne hin, aber ich kann mich einfach nicht von meiner Frau trennen! Wenn ich nur einen Tigerbart hätte, das wäre so toll.
Gerade habe ich auf der Straße meinen Fleischstand aufgebaut, da sehe ich einen großen Eber daherkommen, mit einer schwarzen Satinkappe auf dem Kopf, in langer Gelehrtenrobe und kurzer Weste, in der Hand einen Käfig mit einer Singdrossel. »Xiaojia«, ruft er mir zu, »ich will zwei Pfund Schweinefleisch, wieg es mir großzügig ab und gib mir schön fette Stücke vom Bauch.« An der Stimme erkenne ich Li Shizhai, den gnädigen Herrn Li, Vater eines Absolventen der zweithöchsten Beamtenprüfungen, Einwohner unseres Viertels und ein sehr gebildeter Mann, den jedermann ehrfürchtig grüßt. Wehe, wenn einer wagt, ihm keinen Respekt zu zollen, den tadelt er gleich in affektiertem Ton: »Bei einem Hohlkopf ist alle Erziehung vergebens!« Doch wer hätte ahnen können, daß er in Wahrheit ein großer Eber ist? Nicht einmal er selbst weiß es. Aber wenn ich es ihm verrate, wird er mir sicher mit dem Drachenknauf seines Spazierstocks den Schädel einschlagen.
Er ist noch nicht weg, da kommt schon eine weiße Gans mit einem Bambuskorb angewatschelt. Sie kommt zu meinem Stand, sieht mich grimmig an und gackert los: »Xiaojia, du alter Betrüger, gestern habe ich Hundefleisch in Aspik bei dir gekauft, und als ich's essen wollte, habe ich auf einen runden Fingernagel gebissen. Hast du mir da etwa Menschenfleisch angedreht?« Sie dreht sich zu dem schwarzen Eber um. »Habt Ihr schon
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