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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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schob den Kopf vor und streckte die rote Zunge heraus. Mit der Stimme meiner Frau sagte sie: »Xiaojia, was machst du denn da?«
    Gütiger Gott, sie war also doch eine Schlange! Über zehn Jahre lang habe ich das Bett mit ihr geteilt, ohne zu wissen, daß sie eine Schlange ist. »Die Legende von der weißen Schlange«  – da fiel es mir ein: Damals hatte sie diese Opernrolle gesungen und sich als weiße Schlange verkleidet. Dann war ich also der Xu Xian aus diesem Stück? Aber warum hatte sie mir mein Hirn noch nicht ausgesaugt? Sie war doch keine echte Schlange von oben bis unten, sie hatte nur einen Schlangenkopf. Ihre Beine, Arme, Brüste und Haare hatte sie nicht verloren. Und doch war ich zu Tode erschrocken und warf das Tigerhaar weg, als hätte ich glühende Kohlen in der Hand. Mich schauderte.
    Meine Frau musterte mich mit einem kühlen Lächeln. Sie hatte wieder ihre gewohnte Gestalt, aber die dicke Schlange war in ihrem Körper verborgen und konnte jeden Moment wieder aus ihr hervorbrechen. Womöglich wußte sie, daß ich ihr wahres Wesen erkannt hatte. Deshalb wirkte ihr Lächeln so seltsam, so falsch. »Hast du es gesehen? In welches Tier habe ich mich verwandelt?« fragte sie. Aus ihren Augen schoß ein Strahl klammer Kälte. Ihre ehemals so wunderschönen Augen wirkten auf einmal so häßlich und bösartig  – ja, es waren tatsächlich die Augen einer Schlange!
    Mit einem unbeholfenen Lachen versuchte ich, meine Angst zu verbergen. Ich spürte einen unangenehmen Geschmack im Mund und meine Gesichtshaut kribbelte. Hatte sie mich vergiftet? Ich stammelte: »Nichts, ich habe nichts gesehen, gar nichts habe ich gesehen ...«
    »Du lügst«, sagte sie barsch. »Bestimmt hast du etwas gesehen.« Ein widerlicher Gestank kam aus ihrem Mund  – so widerlich wie der einer Schlange.
    »Sag es mir ehrlich. In welches Tier habe ich mich verwandelt?« Ihr Lächeln war sonderbar, ihre Haut sah schuppig und glänzend aus. Ich konnte auf keinen Fall die Wahrheit sagen, damit würde ich mir nur ins eigene Fleisch schneiden. Ich bin zwar dumm  – aber nicht in diesem Fall. »Ich habe überhaupt nichts gesehen, ganz bestimmt nicht«, sagte ich.
    »Du kannst mich nicht täuschen, Xiaojia, du bist wie ein Kind. Du bist doch ganz rot im Gesicht und der Schweiß dringt dir aus allen Poren. Nun sag schon, bin ich ein Fuchs? Oder ein Wiesel? Oder vielleicht ein weißer Aal?«
    Ein weißer Aal? Das ist ja schon ein Cousin der Schlange. Sie kam der Sache immer näher, sie wollte mich wohl austricksen. Ich konnte mich mit ihr nicht messen. Und wenn sie selbst darauf kam, daß sie eine Schlange war? Dann konnte ich ja nicht länger den Dummen spielen. Aber wenn ich es ihr sagte, daß ich sie als weiße Schlange gesehen habe, würde sie ihr blutrünstiges Maul aufreißen und mich verschlingen. Sie wußte allerdings, daß ich ein Messer bei mir trug. Wenn ich es benutzt hätte, wäre das ihr Ende gewesen. Oder nicht? Mit ihrer Zunge, die härter ist als der Schnabel eines Spechts, hätte sie mir ein Loch in den Kopf hacken und mir das Hirn aussaugen können. Und dann das Mark aus dem Rückgrat und das Blut aus den Adern, bis nichts von mir übrig war als ein Hautsack mit Knochen drin. Nein! Das würde dir so passen! Selbst mit einer Zange bekommst du meine Zähne nicht auseinander. Meine Mutter hat mir beigebracht: Wer den Mund halten kann, den können selbst die Unsterblichen nicht bestrafen. »Ich habe wirklich nichts gesehen.«
    Sie lachte auf ihre unwirsche Art, und dabei wirkte sie immer weniger wie eine Schlange und immer mehr wie ein Mensch. Sie drehte ihren watteweichen Körper und kroch nach draußen. Bevor sie die Tür erreichte, drehte sie sich noch einmal um und rief: »Nimm deinen Tigerbart und schau, in welches Tier sich dein seit vierundvierzig Jahren mordender Vater verwandelt hat. Eine giftige Schlange, würde ich sagen.«
    Schon gab sie mir das Stichwort. Sie war wie der Dieb, der schreit: »›Haltet den Dieb.« Wie konnte ich mich von ihr an der Nase herumführen lassen?
    Ich steckte meinen Schatz wieder in die Mauerritze. Was hatte mir der Tigerbart gebracht? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, so sagt man doch, und je mehr man weiß, desto mehr Kummer hat man. Es wäre besser, nichts über die wahre Gestalt der Menschen zu wissen, denn man kann doch nichts daran ändern. Nun hatte ich das wahre Wesen meiner Frau gesehen und es stellte sich heraus, meine Frau war gar keine Frau. Wenn ich nicht

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