Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
sie neugierig. Als ich ihr weißes und zartes Antlitz vor mir sah, ihre Arme und Beine und den wie abwesend mit ernster Miene in seinem Sessel sitzenden Vater, war mir, als würde ich aus einem tiefen Traum erwachen. »Womöglich habe ich geträumt und im Traum gesehen, daß du eine Schlange bist und daß mein Vater ein schwarzer Panther ist.«
Mit einem sonderbaren Lächeln sagte sie: »Wer weiß, vielleicht bin ich wirklich eine Schlange? Ich bin tatsächlich eine Schlange!« Unversehens wurde ihr Gesicht lang, und ihre Augen funkelten grün. »Ich wünschte, ich wäre eine«, sagte sie grimmig, »dann würde ich dir in den Bauch kriechen!«
Ihr Gesicht wurde immer länger und das Grün ihrer Augen immer intensiver, und ihr Hals überzog sich von neuem mit buntschillernden Schuppen. Ich hielt mir beide Augen zu und schrie verzweifelt: »Nein, das bist du nicht, du bist keine Schlange, du bist ein Mensch!«
3.
In diesem Augenblick wurde das Haustor mit Gewalt aufgestoßen.
Ich erkannte die beiden Schergen des Yamen, die mein Vater eben aus dem Haus geworfen hatte. Jetzt hatten sie sich zu meinem Schrecken in zwei graue Wölfe in Amtstracht verwandelt. Die Pfoten am Knauf ihrer Schwerter, stellten sie sich zu beiden Seiten des Tores auf. Ich schloß eilig die Augen in der Hoffnung, auf diese Weise meinen Traumgesichten zu entkommen. Als ich sie wieder öffnete, sahen ihre Gesichter zwar schon wieder wie die von Amtsdienern aus, doch auf ihren Händen wuchsen lange, graue Haare und anstelle von Fingern hatten sie gebogene Eisenhaken. Mit Bestürzung wurde mir bewußt, daß das Haar meiner Frau viel mehr vermochte als jeder magische Tigerbart. Dieser entfaltete seine Kräfte nur, wenn man ihn in der Hand hielt, während das Haar meiner Frau auch aus der Ferne wirkte, nachdem es nur kurz mit meiner Hand in Berührung gekommen war. Ganz gleich, ob man es festhielt oder wegwarf, ob man sich seiner erinnerte oder es vergaß.
Während sich die beiden Schergen in Wolfsgestalt rechts und links von unserem Tor postierten, wurde eine Sänfte vor unserem Haus abgesetzt. Die vier Sänftenkulis waren offensichtlich Affen – auch wenn sie die haarigen Ohren unter ihren hohen Mützen verbargen. Sie trugen die Sänfte mit ihren blanken Vorderpfoten, schnaubten und prusteten. Es sah ganz so aus, als seien sie den ganzen Weg hierher gerannt. Die über ihre Tierbeine gezogenen Stiefel waren von einer dicken Staubschicht bedeckt. Der Kriminalbeamte Diao – sein Spitzname war Privatdozent Diao – war ein Igel mit spitzem Maul. Er zog mit seinen rosafarbenen Pfötchen die Vorhänge der Sänfte auseinander. Ich erkannte die Sänfte Seiner Exzellenz Qian. Es war genau die Sänfte, gegen die einmal der Kleine Kui gespuckt hatte. Daher wußte ich, daß im nächsten Moment Seine Exzellenz Qian, der Präfekt von Gaomi, aussteigen würde, der natürlich auch der Patenonkel meiner Frau war. Genaugenommen, ist der Patenonkel meiner Frau auch mein Patenonkel, und ich hätte nichts dagegen gehabt, ihn aufzusuchen, um ihm Respekt zu zollen, aber das hätte meine Frau nie zugelassen. Der Fairneß halber muß man sagen, daß Seine Exzellenz Qian uns finanziell immer von großem Nutzen gewesen ist und meiner Familie über die Jahre hinweg schon viel Geld erlassen hat, aber er hätte dem Kleinen Kui wegen ein bißchen Spucke wirklich nicht gleich die Beine brechen müssen. Schließlich ist der Kleine Kui ein guter Freund von mir. Einmal hat er zu mir gesagt: »Xiaojia, du Idiot, warum trägst du denn die blaue Mütze nicht, die dir Seine Exzellenz Qian zum Geschenk gemacht hat?« Ich ging nach Hause und fragte meine Frau: »Frau, der Kleine Kui hat gesagt, Seine Exzellenz Qian hat mir eine blaue Mütze geschenkt, wo ist denn diese blaue Mütze? Willst du sie mir nicht zeigen?«
Wutentbrannt schimpfte sie: »Du Schwachkopf, der Kleine Kui ist ein Versager, was ziehst du mit so einem herum? Wehe du triffst dich noch einmal mit dem, dann darfst du mich nie wieder berühren!«
Keine drei Tage später wurden dem Kleinen Kui im Yamen die Beine gebrochen. Wegen so ein bißchen Spucke gleich den Leuten die Beine brechen, da habt Ihr wirklich den Bogen überspannt, Euer Exzellenz. Doch jetzt will ich sehen, was für ein Tier Ihr seid.
Ich sah einen weißen Tigerkopf, groß wie ein Wagenrad, aus der Sänfte spähen. Himmel! Seine Exzellenz Qian ist also die Wiedergeburt eines weißen Tigers. Ja, meine Mutter sagte schon, der Kaiser sei ein
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