Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
bestickter Türvorhang zum Vorschein kam. Dieses Bild brachte ihr Blut erneut heftig in Wallung, es brachte die Szene mit den beiden ineinander verschlungenen Vögeln auf dem Teich in Erinnerung, und sie mußte sich auf die Lippe beißen, um nicht zu weinen. Kaum hätte sie sagen können, ob sie Liebe oder Haß in sich fühlte; sie spürte nur den Aufruhr in ihrem Innern und lehnte die Stirn an die kalte Wand, um sich zu beruhigen.
Mit zusammengebissenen Zähnen unterdrückte sie den Sturm, der in ihr tobte, und ging entschlossen auf den Vorhang zu. Von drinnen vernahm sie das Rascheln von Papier und den Klang eines Teetassendeckels, der auf den Rand der Teetasse gesetzt wurde. Dem folgte ein ganz leichtes Hüsteln. Ihr war, als bliebe ihr Herz stehen, und ihr Atem stockte. Es war sein Hüsteln! Das Hüsteln des Mannes ihrer Träume. Aber auch das des Feindes, der nach außen hin gütig und milde tat und dabei ein grausamer Mensch war, der ihrem Vater den Bart ausgerissen hatte. Sie dachte an ihren demütigenden Liebeskummer, an die Heilungsversuche Tante Lüs und an die stinkende Essenz, die Tante Lü sie hatte einnehmen lassen. »Du Verbrecher, jetzt weiß ich, warum ich heute hierhergekommen bin. Nicht etwa um die Schande zu vergelten, die du meinem Vater angetan hast, sondern weil ich diese Krankheit mein Leben lang nicht mehr abschütteln kann. Ich will endlich frei sein vom Joch meiner Liebe. Du wirst immer nur auf mich herabsehen. Ich habe große Füße, bin die Frau eines Metzgers. Da es keine Hoffnung und keine Heilung für mich gibt, bleibt mir nur, vor deinen Augen zu sterben oder dich vor meinen Augen sterben zu lassen und dir dann in den Tod nachzufolgen.«
Um den Mut zu finden, den Türvorhang aufzuziehen, versuchte sie, den Haß in sich anzufachen, doch es gelang ihr nicht. Ihm fehlte die Basis, die Schwere; er war nur ein armseliger Windhauch, der keinen Grashalm zu bewegen vermochte. Der Veilchenduft aus dem Hof stieg ihr zu Kopf und ihr wurde schlecht. In diesem Moment hörte sie drinnen ein leises Pfeifen, wohlklingend wie das Zwitschern eines kleinen Vogels. Daß der ehrwürdige Präfekt so vor sich hin pfeifen könnte wie ein frivoler junger Mann, hätte sie nicht erwartet. Dieses Pfeifen war wie ein erfrischender, kühler Wind, der über sie hinstrich, ihr eine Gänsehaut verursachte und einen Riß durch den Nebel in ihrem Kopf zog. Gütiger Himmel, wenn ich noch einen Moment zögere, wird mich endgültig der Mut verlassen. Sie mußte ihren Plan ändern und das Messer schon jetzt in die Hand nehmen. Sie würde ins Zimmer stürmen und es ihm ins Herz stoßen. Sie nahm sich zusammen, riß heftig den Vorhang auseinander und glitt in das Zimmer des Präfekten; sofort schloß sich der mit den weißen Reihern bestickte Vorhang wieder und ließ die Außenwelt weit hinter ihr zurück.
Der riesige Schreibtisch des Zimmers mit den vier Schätzen der Schreibkunst, die Kalligraphien und Tuschemalereien, die von den Wänden hingen, die Pergolen in den Nischen, die Blumentöpfe – das alles konnte sie erst nach und nach wahrnehmen, nachdem ihre Leidenschaft sich etwas abgekühlt hatte.
Zunächst aber hatte sie nur Augen für Qian Ding. Er trug weite, bequeme Zivilkleidung und saß zurückgelehnt in seinem Amtssessel, die Füße in Socken auf dem Tisch. Völlig erschrocken zog er seine Beine vom Tisch herunter und legte das Buch zur Seite, in dem er gerade gelesen hatte. Der Ausdruck baren Erstaunens wollte nicht aus seinem Gesicht weichen. Er blickte sie unverwandt an: »Du ...«
Zwei Augenpaare fanden sich, die Blicke senkten sich ineinander. Meiniang hatte das Gefühl, gefesselt zu sein und sich nicht mehr rühren zu können. Der Korb, den sie trug und das Messer in ihrer Hand fielen auf den mit Ziegelsteinen ausgelegten Boden. Das Messer funkelte, doch keiner nahm es wahr. Das Hundefleisch duftete, doch keiner merkte etwas davon. Meiniang war von ihren Gefühlen überwältigt, ihr Gesicht war tränennaß. Die Tränen liefen ihr so heftig, daß sie ihr Kleid auf der Brust durchnäßten. Sie trug ein lotuswurzelfarbenes Überkleid, Hals, Saum und Ärmelaufschlag waren mit hellgrünen Blumen bestickt. Der hohe Stehkragen brachte ihren schönen weißen Hals zur Geltung. Ihr Gesicht war wie eine vom Morgentau bedeckte zartrosa Lotusblüte, allerliebst, zart und schüchtern. Seine Exzellenz Qian war von ihrem Anblick zutiefst bewegt. Diese wie eine Fee vom Himmel herabgefallene Schönheit schien er
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