Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
schon seit langer Zeit zu kennen und zu lieben.
    Er erhob sich und ging um den Schreibtisch herum, ohne die schmerzhaften blauen Flecken wahrzunehmen, die er sich in seiner Hast an dessen Ecken und Kanten zuzog. Er hatte nur noch diese Frau im Sinn. Er war wie eine Raupe, kurz bevor sie sich in einen Schmetterling verwandelt und ihren Kokon zurückläßt. Seine Augen waren feucht und sein Atem ging schwer. Er streckte ihr seine weit geöffneten Arme entgegen. Als sie nur noch einen Schritt von ihm entfernt war, hielt er inne, und erneut senkten sich ihre Blicke ineinander. Noch einen Augenblick blieben sie fasziniert voreinander stehen, dann fielen sie sich in die Arme. Sie wanden sich umeinander wie zwei Schlangen, sie waren bereit, ihre Lebensenergie zu verausgaben, atemlos, ohne darauf zu achten, wie ihre Gelenke knackten. Ihre Lippen fanden sich und ließen nicht mehr voneinander ab. Sie schlossen die Augen. Es gab nur noch Lippen und Zungen in diesem Kampf auf Leben und Tod, ein überwältigendes Verschlingen und Verschmelzen, brennendheiße Süße ... In diesem Moment war alles richtig, und nichts konnte sie mehr halten. Es gab in dieser würdigen Amtsstube kein geschnitztes Bett aus Elfenbein und kein mit Mandarinenten besticktes Hochzeitsbettzeug. Die beiden Liebenden schlüpften aus ihren Kokons und wurden auf dem harten Ziegelboden zu Unsterblichen.

Kapitel 7:
Trauergesang

1.
    Der zweite März 1900 war der zweite Tag des zweiten Monats des sechsundzwanzigsten Regierungsjahrs des Kaisers Guangxu, des Jahres Gengzi nach traditioneller Jahresbezeichnung. An diesem Tag erwacht der Legende nach der Drache aus seinem Winterschlaf. Die Frühlingssonne wurde spürbar, die Temperatur begann zu steigen, und schon bald würde man anfangen, mit den Ochsen die Felder zu pflügen, um die Feuchtigkeit des Bodens zu bewahren. An diesem Tag war Markttag in Masang im Bezirk Dongbei, und die Bauern, die den ganzen Winter in ihren Häusern verbracht hatten, liefen zusammen, ob sie Geschäfte zu tätigen hatten oder nicht. Wer kein Geld hatte, strollte einfach die Straße hinunter und sah dem Treiben zu. Einige hielten Monologe. Wer Geld hatte, aß frisch gebackenes Brot, setzte sich in Teehäuser oder trank Schnaps. Es war ein strahlendheller Sonnentag, und obwohl immer noch ein schneidender Nordwind wehte, fühlte sich die Luft bereits frühlingshaft an, das Dürre und Kalte wich dem Üppigen und Warmen. Die hübschen Mädchen hatten ihre plumpen, wattierten Jacken gegen einfach gefütterte, bequemere Kleidung eingetauscht, die ihre weiblichen Formen zur Geltung brachte.
    Sehr früh am Morgen stieg Sun Bing, der Inhaber des Teehauses Onkel Sun, mit der Tragstange und den Wassereimern über der Schulter den Deich am Flußufer hinauf und auf der Seite des Flusses Masang wieder hinab, lief über den Pier und holte frisches Flußwasser, um sein Tagewerk vorzubereiten. Die Eisschollen, die er gestern noch am Ufer des Flusses gesehen hatte, waren innerhalb eines Tages geschmolzen, die Wellen des dunkelgrünen Wasser kräuselten sich, und ein kühler Dunst stieg von der Wasseroberfläche auf.
    Das vergangene Jahr war kein besonders ertragreiches gewesen. Das Frühjahr war zu trocken und der Herbst zu naß gewesen, aber da es weder Hagelschlag noch eine Heuschreckenplage gegeben hatte, wurden immerhin noch sechzig bis siebzig Prozent der üblichen Ernte eingefahren. Seine Exzellenz Qian, der Präfekt zeigte Milde angesichts der Nöte der Bauern; in seinem Jahresbericht sprach er von Flutschäden und konnte dadurch große Steuererleichterungen erreichen, so daß es dem einfachen Volk sogar ein wenig besser ging als in den vorangehenden Jahren, in denen es Rekordernten gegeben hatte. Die Dorfbevölkerung war gerührt von dem an den konfuzianischen Klassikern geschulten Edelmut des Präfekten und sammelte Geld zur Anfertigung eines Ehrenschirms, wie man sie an beliebte Landesherren verleiht. Sun Bing wurde auserkoren, dem Präfekten den Schirm zu überbringen. Er lehnte strikt ab, aber es half nichts. Eines Tages warf man ihm den Ehrenschirm, den die Unterschriften sämtlicher Dorfbewohner zierten, einfach mitten in den Gastraum seines Teehauses. Sun Bing blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und sich mit dem Schirm auf der Schulter auf den Weg zur Präfektur zu machen.
    Es war das erste Mal, daß er in die Kreisstadt ging, seitdem ihm der Bart ausgerissen worden war. Als er die Straßen des

Weitere Kostenlose Bücher