Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
aus Jiangrun in Guangdong, Chefredakteur der Zeitschrift Die Welt ist. Er hat bei sich zwei Telegraphenstationen eingerichtet, über die er die neuesten Nachrichten aus Japan und der westlichen Welt empfängt. Erst gestern hat meine Familie eine Expreßnachricht von ihm erhalten, daß die Kaiserinwitwe Cixi im Sommerpalast in Beijing den Sonderbotschafter des deutschen Kaisers empfangen hat, bei dem über die Eisenbahnstrecke Jiaozhou – Jinan verhandelt wurde.«
Der junge Herr Wu klatschte in die Hände: »Sprecht nicht weiter, laßt mich raten.«
»Dann rate ruhig«, sagte Zweiter Patriarch, »wenn du richtig rätst, werde ich persönlich heute für euer aller Rechnung aufkommen.«
»Ihr seid sehr großzügig, Zweiter Patriarch, an Euch ist ein wahrer Diplomat verlorengegangen. Ich rate also, daß unser Volksbegehren Früchte getragen hat und die Bahnstrecke verlegt wird.«
»Welch ein Glück, welch ein Glück«, murmelte ein weißbärtiger alter Mann vor sich hin. »Dank sei dem weisen Geschick Ihrer Majestät der Kaiserinwitwe!«
Zweiter Patriarch Zhang schüttelte den Kopf und sagte mit einem Seufzer: »Heute muß wohl jeder seinen Tee selbst bezahlen.«
»Also wird die Streckenführung nicht geändert werden?« fragte der junge Herr Wu entrüstet. »Dann war also unser Volksbegehren völlig umsonst?«
»Eure Petition da, die hat irgendeinem der hohen Herren als Klopapier gedient!« sagte der Zweite Patriarch grimmig. »Was glaubst du denn, wer du bist? Die Kaiserinwitwe hat doch mit eigenen Worten gesagt: ›Der gelbe Fluß mag seinen Lauf ändern, nicht aber die Bahnstrecke Jiaozhou – Jinan.‹«
Die Menge war sprachlos. Dann ging ein einhelliges Aufstöhnen durch das Teehaus. Zuerst sprach Magister Qu, der eine wurmartige Narbe im Gesicht hatte: »Wenn also in diesem Fall der deutsche Kaiser einen Sonderbotschafter schickt, dann wohl um die Kompensationszahlung für die Vernichtung unseres Landes und der Grabstätten unserer Ahnen zu verdoppeln?«
»Die Worte des Großen Bruders Qu treffen ins Schwarze«, bestätigte lebhaft Herr Zhang. »Als der Gesandte des Kaisers des Deutschen Reiches zur Kaiserinwitwe kam, vollzog er zunächst das Ritual des dreifachen Kniefalls und der neun Kotaus, danach überreichte er ihr eine Denkschrift. Diese Denkschrift ist ganz in Lammleder gebunden und wird auch in zehntausend Jahren nicht zerfallen. Der Gesandte versicherte, der deutsche Kaiser habe gesagt, daß die Bevölkerung von Dongbei nicht mit Verlusten zu rechnen hätte. Für jeden halben Hektar Land würde sie mit hundert Pfund Silber entschädigt und für jedes zerstörte Ahnengrab mit zweihundert Pfund Silber. Das Silber würde schon bald mit einem Dampfer zu uns gelangen!«
Einen Augenblick lang schien es den Gästen die Sprache zu verschlagen, doch dann ging ein großer Tumult los.
»Verdammt noch mal! Mir haben sie mehr als einen halben Hektar weggenommen und mir gerade einmal acht Pfund bezahlt!«
»Zwei Grabhügel meiner Vorfahren haben sie zerstört und uns nicht mehr als zwölf Pfund Entschädigung gezahlt!«
»Silber? Wo soll denn bitte dieses Silber hingeflossen sein?«
»Was soll der Lärm, Leute?« Zweiter Patriarch Zhang schlug ungehalten mit der Hand auf den Tisch. »Mit eurem Geschrei wird sich der Himmel nicht einmal den Hintern abwischen. Laßt es mich euch sagen, wo das Silber ist: Die chinesischen Dolmetscher, diese Betrüger, die mit den Ausländern kollaborieren, haben es sich unter den Nagel gerissen!«
»Nicht schlecht! Genau so ist es!« sagte der junge Herr Wu. »Ihr kennt doch den Kleinen Qiu, der im Nachbardorf frittierte Gebäckstangen verkauft. Er war drei Monate lang Assistent eines Dolmetschers, der für einen deutschen Ingenieur arbeitete. Jeden Abend ist der aus dem Mahjong-Spielsalon herausgekommen, die Taschen voll mit mexikanischen Silberdollars! Ja, wenn man nur ein bißchen seine Finger im Spiel hat bei diesem Eisenbahnbau, macht man ein großes Geschäft, auch wenn man nur ein kleines Würstchen ist. Anders gesagt: ›Wo die Eisenbahn rollt, rollt das Gold‹!«
»Zweiter Patriarch«, fragte Magister Qu vorsichtig. »Weiß denn Ihre Majestät die Kaiserinwitwe von diesen Vorgängen?«
»Das fragst du mich?« fauchte Zweiter Patriarch Zhang wie ein zorniger Tiger. »Woher soll ich das wissen?«
Die Leute konnten ein bitteres Lachen nicht zurückhalten. Ihr Lachen verebbte jedoch schnell und mit gesenkten Köpfen schlürften sie kummervoll ihren
Weitere Kostenlose Bücher