Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)
mußte und nicht einmal soweit denken konnte, seiner Frau aufzuhelfen. Diese mühte sich selbst, hochzukommen. Das Gesicht unter dem zersausten Haar bot einen grauenhaften Anblick, es war von Dreck, Blut und Tränen verschmiert. Weinend sank sie ihm die Arme. Sun Bing hatte nicht einmal die Kraft, seine Frau im Arm zu halten. Diese glitt aus seiner Umarmung und warf sich auf ihre jammernden und weinenden Kinder. Sun Bing stand da und starrte den deutschen Ingenieur an, der dalag wie eine sterbende Schlange.
5.
Bei diesem Anblick dämmerte es Sun Bing, daß hier eine große Katastrophe ihren Anfang nahm. Doch innerlich meldete sich trotzig sein Sinn für Gerechtigkeit: »Er hat meine Frau entehrt! Er hatte sogar schon seine Hände zwischen ihren Beinen. Und auch meine Kinder haben sie verletzt! Ich hatte allen Grund, ihn niederzuschlagen. Wer hätte in so einer Situation stillgehalten? Außerdem hatte ich nicht die Absicht, ihn zu töten, sein Kopf schien einfach nicht viel auszuhalten! Das können alle bestätigen, die dabei waren, auch die Eisenbahnarbeiter, auch der andere Deutsche. Sie waren es, die meine Frau belästigt und unanständig angefaßt haben, meinen Kindern weh getan haben! Erst dann habe ich in Rage zum Stock gegriffen und zugeschlagen.«
Obwohl er das Recht auf seiner Seite wähnte, fühlten sich seine Beine schwach und schmerzhaft an, und er hatte einen trockenen, bitteren Geschmack im Mund. Der Gedanke an die Katastrophe ließ sich einfach nicht vertreiben und nicht verdrängen und raubte ihm jede Möglichkeit, einen klaren Gedanken zu fassen. Die lärmende Menge auf der Straße hatte sich bereits verlaufen. Die Standinhaber am Straßenrand begannen hastig, ihre Sachen zusammenzupacken, um sich, wie es aussah, so schnell wie möglich vom Ort des Unheils zu entfernen. Die Läden, die die Hauptstraße auf beiden Seiten säumten, schlossen am hellichten Tag die Türen und hängten Holzschilder mit der Aufschrift »wegen Inventur geschlossen« aus. Die graue Straße wirkte mit einemmal viel breiter und ein starker Nordwind trieb welke Blätter und Papierfetzen durch die Straße. Ein paar räudige Köter mit dreckigem Fell verzogen sich jaulend in die kleineren Gassen.
Sun Bing kam der Gedanke, daß er hier mit seiner Familie allein auf einer großen Bühne stand, und alle Welt sich ihr Schauspiel ansah. Aus den Ritzen der geschlossenen Ladentüren, aus den Fenstern der Wohnhäuser entlang der Straße und aus vielen weiteren verborgenen Winkeln trafen sie verstohlene Blicke. Seine Frau drückte die Kinder an sich. Der eiskalte Wind ließ sie erzittern und sie blickte ihn mit einem erbarmungswürdigen Gesichtsausdruck an, als wolle sie ihn um Vergebung bitten. Die beiden Kleinen vergruben ihre Köpfe im Kleid der Mutter, wie zwei schutzsuchende Vögelchen. Er fühlte einen unerträglichen Schmerz, als hätte ihm jemand mit einem stumpfen Messer ins Herz gestochen. Seine Augenhöhlen brannten, er hatte ein Stechen in der Nase, er kam sich vor wie ein tragischer Held. Er gab dem gewunden am Boden liegenden Deutschen einen Tritt und schimpfte: »Meinetwegen kannst du hier verdammt noch mal verrecken!« Dann hob er den Kopf und sagte laut zu den heimlich aus allen Ecken zu ihm hinsehenden Augen: »Dorfbewohner, ihr habt alle gesehen, was heute vorgefallen ist. Wenn es zu einer Untersuchung kommt, werde ich die Dorfältesten und Ehrenmänner bitten, öffentlich und sachlich für mich auszusagen. Das Recht ist auf meiner Seite.« Er faltete die Hände zusammen und drehte sich auf der Straße um die eigene Achse. »Ich bin es, der diesen Mann getötet hat. Ich bin ein Mann, der zu seinen Taten steht und habe nicht vor, euch Nachbarn in irgendeiner Weise zu bezichtigen!«
Er nahm seine beiden Kinder auf den Arm und machte sich mit seiner Frau auf den Weg nach Hause. Der kalte Wind blies über sie hinweg und er fühlte den schweißnassen Stoff seiner Jacke kalt auf dem Rücken wie eine Rüstung.
6.
Am nächsten Tag öffnete er wie immer in aller Frühe den Gastraum und machte sauber. Sein Gehilfe Shitou war bereits eifrig dabei, mit dem Blasebalg das Feuer in Gang zu halten und die vier auf dem Herd stehenden Kupferkessel pfiffen schrill. Doch als die Sonne bereits im Südosten stand, hatte sich noch kein einziger Gast zum Teetrinken eingefunden. Auf der ganzen Straße ließ sich keine Menschenseele blicken, nur der frische Wind trieb dort die welken Blätter vor sich her. Kleiner Pfirsich hielt die Kinder
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