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Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition)

Titel: Die Sandelholzstrafe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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Tee.
    Eine Weile herrschte verlegenes Schweigen. Zweiter Patriarch Zhang blickte verstohlen nach draußen und, als ob er Angst hätte, daß jemand mithören könnte, fragte er mit gesenkter Stimme: »Es gibt da eine Sache, die noch viel schlimmer ist. Soll ich es euch erzählen?«
    Die Umsitzenden starrten ihn erwartungsvoll an und warteten auf das, was er zu erzählen hatte.
    Der Zweite Patriarch blickte sich nach rechts und links um, bevor er geheimnistuerisch sagte: »Ein guter Freund meiner Familie, Wang Peiran vom Regenpavillon, ist Sekretär im Yamen von Jiaozhou und hatte in letzter Zeit mit einer Reihe von seltsamen Fällen zu tun. Es geht um einige Männer, die beim Aufwachen feststellen mußten, daß sie keinen Zopf mehr hatten. Jemand hatte ihn mit der Schere abgeschnitten.«
    Die Gäste des Teehauses waren schockiert. Aber niemand wagte, eine Bemerkung zu machen. So fuhr der Zweite Patriarch fort: »Die Männer, denen man den Zopf abgeschnitten hatte, waren nachher alle ganz benommen im Kopf und hatten trübe Augen, ihre Glieder fühlten sich kraftlos an, sie waren geistesabwesend und konnten nicht mehr richtig sprechen. Sie waren regelrechte Krüppel. Alle Medizin half nichts, denn es handelte sich gewiß nicht um eine körperliche Krankheit.«
    »Hat das vielleicht etwas mit den langhaarigen Rebellen zu tun?« schaltete sich der junge Herr Wu ein. »Ich habe von meinen Großeltern gehört, daß zur Zeit des Kaisers Xianfeng die Taiping-Rebellen auf ihrem Feldzug gen Norden den Leuten zuerst die Zöpfe und danach die Köpfe abgeschnitten haben.«
    »Nein, damit hat es nichts zu tun«, sagte Zweiter Patriarch Zhang. »Ich habe gehört, daß es sich diesmal um die magischen Rituale deutscher Missionare handele.«
    Verunsichert fragte Magister Qu nach: »Was soll denn das Abschneiden von Zöpfen für einen Sinn machen?«
    »Denk doch mal nach«, sagte Zweiter Patriarch ungehalten. »Meinst du, diese Leute wären hinter den Zöpfen her? Sie wollen eure Seelen, das ist es! Deshalb waren die Männer mit den abgeschnittenen Zöpfen so kraftlos. Sie haben ihre Seelen verloren.«
    »Aber Zweiter Patriarch, eins verstehe ich immer noch nicht«, hakte Magister Qu nach. »Was wollen die Deutschen denn mit diesen Seelen anfangen?«
    Zweiter Patriarch Zhang lächelte spöttisch und gab keine Antwort.
    Dem jungen Herrn Wu dämmerte etwas. »Ach so! Diese Geschichte hat bestimmt etwas mit dem Bau der Eisenbahn zu tun!«
    »Der junge Herr Wu ist doch etwas klüger als andere.« Zweiter Patriarch Zhang tat noch geheimnisvoller, als er mit leiser Stimme sagte: »Was ich euch jetzt sage, dürft ihr auf keinen Fall herumerzählen. Die Deutschen nehmen den chinesischen Männern die Zöpfe weg, um sie unter die Eisenbahnschienen zu legen. Unter jeder Schiene wird ein Zopf mitverlegt. Ein Zopf steht für eine Seele, und jede Seele steht für einen starken und kräftigen Mann. Überlegt doch mal, so ein Zug besteht aus reinem Eisen, wiegt Zehntausende von Pfund, aber er trinkt kein Wasser und frißt kein Gras, wie soll er also so schnell über die Erde rasen können? Und nicht nur rasen, sondern wie im Flug dahinsausen? Woher nimmt er die Kraft? Jetzt wißt ihr es.«
    Alle waren wie versteinert und niemand tat einen Mucks. Im Hinterhof pfiff laut der Wasserkessel, und der schrille Ton gellte den Leuten in den Ohren. Alle sahen mit einemmal, daß eine große Gefahr bedrohlich auf sie zukam. Sie verspürten an ihrem Nacken eine klamme Kälte, als würde dort eine unsichtbare Schere hängen.
    Während sie alle in ihrer Besorgnis um den eigenen Zopf gefangen waren, trat atemlos Qiusheng, der kleine Gehilfe der Apotheke ein, als brenne ihm Feuer unter dem Hintern. Völlig außer Atem sagte er zu Sun Bing: »Meister ... Es ist etwas passiert ... Mein Chef schickt mich zu Euch ... auf dem Markt hat ein deutscher Techniker Eure Frau unzüchtig berührt ... Mein Chef hat gesagt, ich soll schnell laufen, sonst geschieht noch Schlimmeres ...«
    Sun Bing war so erschrocken, daß er den Kessel, den er in der Hand gehalten hatte, mit einem lauten Donnern zu Boden fallen ließ. Kochendheißes Wasser und zischender Wasserdampf flossen heraus. Ein grausames Feuer brachte Sun Bings Blut zum Kochen. Die Kundschaft konnte sehen, wie sein von Narben übersätes Kinn bedrohlich zu beben anfing, seine so friedfertige und freundliche Miene bekam Flügel und flog davon, um einer dämonischen Fratze Platz zu machen. Mit ein paar Schritten durchquerte er

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