Die sanfte Hand des Todes
der Dawn gern zusammenarbeitete. Sie schilderte Katherine kurz und bündig die Symptome.
»Mist«, sagte Katherine, »das klingt nicht gut. Ich komme rauf, sobald ich kann.«
Anschließend machte Dawn sich auf die Suche nach Clive, der die Schlüssel zum Morphiumschrank bei sich trug. Sie konnte ihn nirgends entdecken. Sie sah im Pausenraum nach. Normalerweise verbrachte Clive jede freie Minute vor dem Fernseher, die Füße auf den Tisch gelegt, und beschwerte sich währenddessen über die viele Arbeit. Aber heute Abend war der Platz vor dem Fernseher leer. Dawn schaute in den Fäkalienraum, in die Küche, in den Lagerraum. Nichts.
»Haben Sie Clive gesehen?«, fragte sie Pam, die gerade dabei war, den Katheterbeutel eines Patienten zu wechseln.
Pam richtete sich auf, das Uringefäß in der Hand. »Ich habe ihn vor einer Weile hinausgehen sehen. Vielleicht musste er mal zur Toilette?«
»Ich werde ihm ein paar Minuten geben.«
Dawn kehrte an den Tresen zurück und versuchte, sich auf den Bericht zu konzentrieren. Aber schon wenige Minuten später fing Lewis wieder zu jammern an.
»Bitte, Schwester, tun Sie irgendwas! Ich halte das nicht mehr aus.«
»Schon gut, Lewis. Ich komme.«
Sie stand auf. Wo blieb Clive? Er konnte unmöglich so lange auf dem Klo sitzen. Dawn erinnerte sich, wie er ausgesehen hatte, als er zur Arbeit erschienen war: teigiges Gesicht, blutunterlaufene Augen. Er hatte abstoßend gewirkt, selbst für seine Verhältnisse. Steckte mehr dahinter als mangelnde Körperpflege? War Clive tatsächlich krank?
Sie ging zur Flügeltür und stieß sie auf. Diese Nachtschicht war dabei, aus dem Ruder zu laufen. Sie überquerte den Flur und klopfte an die Tür zur Herrenumkleide.
»Clive?«
Keine Antwort. Sie klopfte noch einmal.
»Clive, hier ist Schwester Torridge. Ist alles in Ordnung?«
Immer noch nichts. Er musste sich irgendwo anders aufhalten, vielleicht am Ende des Flurs, bei den Getränkeautomaten. Das war nicht verboten, doch er hätte sich trotzdem bei ihr oder Pam abmelden müssen. Es konnte nicht sein, dass die Station nachts unterbesetzt war und die Aufsicht nichts davon wusste. Sie wollte sich gerade von der Tür abwenden, als sie etwas hörte: einen hohen Summton, direkt hinter der Tür. War es wirklich ein Summen? Das Geräusch klang nach einem winzigen elektronischen Instrument.
»Clive?« Immer noch keine Antwort. Der Code für die Männer- und die Damenumkleide war derselbe. Dawn tippte
die Zahlen ein und stieß die Tür auf. Sie klopfte an den Türrahmen, bevor sie eintrat.
»Hallo? Hallo?«
Das Summen wurde lauter. Im Licht aus dem Korridor wurden lange Reihen aus Metallspinden und hölzernen Sitzbänken sichtbar. Es stank nach alten Socken. Der Raum war leer, aber das Summen war immer noch zu hören. Das Geräusch kam Dawn bekannt vor, aber sie konnte es einfach nicht einordnen. Sie ging zögerlich weiter, schaute von rechts nach links und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung das Sirren kam. Am lautesten schien es am hinteren Ende der Umkleide zu sein, gleich hinter der Tür mit der Aufschrift »Toilette«. Die Tür war geschlossen, aber am unteren Rand konnte man einen schmalen Lichtstreifen sehen. Im nächsten Augenblick stolperte Dawn über etwas. Ein OP-Clog. Der Schuh flog durch die Luft und knallte mit Getöse gegen das Metallbein der Sitzbank. Der Summton hörte abrupt auf.
»Clive? Sind Sie da drin?«
Stille. Aber im Lichtstreifen unter der Tür war Bewegung zu erkennen. Zweifellos hielt sich jemand in dem Raum auf. Dawn trat an die Tür und schlug energisch dagegen.
»Clive!«
Sie stieß die Tür auf. In dem Raum mit einem einzelnen Waschbecken und einer instabilen Toilettenkabine stand Clive am Becken. Sein Gesicht sah kalkweiß aus, seine Bartstoppeln traten dunkel hervor. Hastig versuchte er, etwas unter seinem Kittel zu verstecken. Dabei stieß er gegen das Objekt auf dem Waschbeckenrand, das klirrend zu Boden fiel.
»Tut mir leid.« Dawns Blick wanderte zu dem Gegenstand am Boden. »Ich habe angeklopft, aber keine Antwort erhalten. Ist alles in Ordnung?«
»Ja, natürlich.«
»Ich habe nichts gehört und mir Sorgen gemacht. Ich dachte, Sie würden …« Dawn verstummte. »Was ist das?«, fragte sie. »Was ist da eben runtergefallen?«
Clive wollte sich bücken, aber Dawn war schneller. Noch bevor er sich den Gegenstand schnappen konnte, war sie in die Hocke gegangen und hatte zugegriffen. Sie hielt das Ding zwischen Daumen und
Weitere Kostenlose Bücher