Die sanfte Hand des Todes
»Das wird eine ruhige Nacht.«
Und nun, da alle Probleme gelöst zu sein schienen, wurde es tatsächlich eine ruhige Nacht. Während Pam unterwegs war, um das Morphium zu besorgen, stand Dawn in ihrem kleinen Büro und lauschte dem sanften Piepen der Monitore. Und da erst, im dämmrigen Halbdunkel, kehrte Clive zurück – nicht auf die Station, sondern in ihre Gedanken. Er stand schwankend neben dem Waschbecken, sein Ekzem leuchtete wie ein Warnschild. Einen kleinen Vorgeschmack haben Sie schon gekriegt. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was Sie erwartet, sollten Sie mich verpfeifen.
Dawn ließ sich auf den Bürostuhl sinken. Auf einmal fühlte sie sich schwach, so wie eine Marionette mit durchschnittenen Fäden.
Der Erpresser. Der Erpresser war Clive.
Kapitel 16
Er hatte es ihr gesagt. Er hatte es ihr selbst verraten, drüben in der schmuddeligen Toilettenkabine. Sie war bloß zu wütend und zu angeekelt gewesen, um es auf Anhieb zu verstehen. Dawn saß mit offenem Mund da. Warum hatte sie so lange gebraucht, um ihn zu durchschauen?
Clive! Auf ihn war sie gleich zu Anfang gekommen, nach der ersten Mail des Erpressers. Sie hatte ihn von der Verdächtigenliste gestrichen, weil er die Station verlassen hatte, bevor sie Mrs. Walker tötete. Aber wer sagte, dass er nicht noch einmal zurückgekommen war?
Der Hass in seinen Augen, als er sich am Waschbecken abgestützt hatte. Einen kleinen Vorgeschmack haben Sie schon gekriegt. Einen Vorgeschmack! Dawn schlang sich die Arme um den Leib und drückte, bis es wehtat. Ja, bei Gott, einen Vorgeschmack hatte sie tatsächlich bekommen. Einen Vorgeschmack auf Angst, Demütigung und Verzweiflung. Wann hatte er begriffen, was er an jenem Tag beobachtet hatte? Es musste ihn wahnsinnig gefreut und erregt haben. Für ihn war es wahrscheinlich wie Geburtstag und Weihnachten zusammen gewesen. Sie zu erpressen musste ihm großes Vergnügen bereitet haben, von finanziellen oder anderen angenehmen Aspekten mal ganz abgesehen.
Ruhig , ermahnte sie sich. Ganz ruhig . Sie war schon wieder dabei, aufgrund einzelner Hinweise vorschnell Schlüsse zu ziehen. Sie hatte keine Beweise, dass Clive der Täter war. Noch bis vor wenigen Sekunden war sie der Überzeugung
gewesen, Dr. Coulton sei der Erpresser. Warum hätte Clive an jenem Tag auf die Station zurückkehren sollen? Er war so wütend gewesen. Vielleicht handelte es sich um eine leere Drohung? Das wissen Sie doch. Einen kleinen Vorgeschmack haben Sie schon gekriegt.
Dawn verstärkte den Druck um ihren Körper. Deutlicher hätte er nicht werden können. Diese Aussage hatte mit Dr. Coultons beiläufigem Kommentar zu der Jalousie nichts zu tun. Clive hätte es ebenso gut direkt aussprechen können. Sie hatte ihn in dem kleinen, stinkenden Raum auf frischer Tat ertappt; er hatte keine andere Wahl gehabt, als sein Wissen preiszugeben. Es ihr an den Kopf zu werfen.
Unruhig schaute sie sich im Büro um. An der Tür hing das Poster für die internationale Forschungskonferenz. Sie war noch nicht dazu gekommen, es herunterzunehmen. Irgendetwas störte Dawn daran. Ihr Blick blieb daran hängen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Was genau war es? Sie hatte das Poster in den letzten Wochen Hunderte Male gesehen. Die große Überschrift: Gratismittagessen für alle Mitarbeiter , und darunter die Liste der Redner. Dawn wollte sich gerade abwenden, als sie es sah.
Dr. Edward Coulton, Vortrag in der Mittagspause: Die Rolle der Makrophage. 13 bis 14 Uhr.
Dawn konnte sich nicht von dem Poster losreißen.
Mrs. Walker war um halb zwei gestorben.
Die Bürotür ging auf, und die Liste verschwand aus Dawns Gesichtsfeld.
»Dawn?« Das war Pam, sie war zurück von der Intensivstation. »Ich habe das Morphium geholt.«
Dawn schüttelte sich und nahm die Ampulle entgegen. »Danke, Pam.«
»Keine Ursache. Kann ich jetzt mit den Kathetern weitermachen?«
»Ja, natürlich. Danke.«
Als die Schwester das Büro schon fast verlassen hatte, sagte Dawn: »Pam?«
Pam drehte sich um. »Ja?«
Dawn nickte in Richtung des Posters. »Kennen Sie zufällig irgendwen, der sich vor ein paar Wochen den Vortrag angehört hat? Den in der Mittagspause?«
Pam warf einen Blick auf die Rückseite der Tür.
»Den von Dr. Coulton?«
»Ja.«
»Tatsächlich kenne ich jemanden«, sagte Pam zufrieden, »zufällig war ich selbst da.«
»Sie?«
»Ja. Ich kam von der Frühschicht und hatte spontan beschlossen, das Mittagessen mitzunehmen. Ein Drei-Gänge-Menü
Weitere Kostenlose Bücher