Die sanfte Hand des Todes
ganze Wahrheit zu erzählen, das Problem an Leute weiterzugeben, die wussten, was zu tun war, würde eine grenzenlose Erleichterung sein und sie für alles entschädigen, was danach kam.
»Die Polizei ist ständig mit solchen Fällen beschäftigt«, erklärte Dr. Coulton. »Egal, was Sie getan haben – ich bin sicher, es ist nicht so schlimm, wie Sie denken.« Er stand auf und machte sich zum Gehen bereit, strich sich Kittel und Hose glatt.
An der Tür blieb er noch einmal stehen.
»Es ist ja nicht so«, sagte er, »als hätten Sie jemanden umgebracht.«
Der Himmel war dunkelblau, der Horizont leuchtete in einem dunklen Orange. Draußen auf der Station ratterten die Wagen vorbei; die Schwestern sammelten die Tabletts vom
Abendessen ein. Es roch nach Möhren und geschmortem Lamm. Eine Lampe nach der anderen wurde eingeschaltet, so dass Dawns Büro noch dunkler wirkte. Die Liste der Nachnamen mit F verschwamm zu einer scheckigen Fläche.
Sie war so dumm gewesen. Wie hatte sie glauben können, Mr. F ohne fremde Hilfe ausfindig zu machen? Das Problem war, dass sie nicht mehr vernünftig denken konnte. Je angestrengter sie an dem Knoten in ihrem Kopf zerrte, desto fester zurrte er sich zusammen.
Sie brauchte Hilfe. Nicht sofort – gleich würde ihre Schicht beginnen. Aber morgen früh würde sie zu der Polizeiwache in der Latchmere Road gehen, die nur wenige Straßen entfernt lag. Sie würde um ein Gespräch unter vier Augen bitten und nichts unterschlagen. Und danach würde sie sich den Konsequenzen stellen, egal, wie sie aussahen.
Aber ihr Job! Ihre Karriere!
Und Will. Will würde die Wahrheit erfahren. Seine Bewunderung würde sich in nichts auflösen.
Dawn ließ den Kopf in die Hände sinken.
Kapitel 15
Um zehn vor neun schaltete Dawn den Computer aus. Sie wusch sich über dem kleinen Waschbecken in der Ecke die Hände und strich sich vor dem Spiegel die Haare aus dem Gesicht. Dann verließ sie ihr Büro. Pam, die regelmäßig von der Zeitarbeitsfirma geschickt wurde, saß hinter dem Stationstresen und blätterte in der Daily Mail .
»Gestern Abend haben sich die Dealer schon wieder eine Schießerei geliefert, in Bermondsey«, sagte sie ganz aufgeregt zu Mandy. »Ich verstehe nicht, warum in aller Welt sie – oh, hallo, Dawn! Ich habe Sie gar nicht gesehen. Bleiben Sie über Nacht?«
»Ja.«
»Wie schön.« Pam blätterte um. »Oh, seht mal! Wieder eine leichtgläubige Frau, die um ihre Ersparnisse betrogen wurde. ›Am Anfang der Beziehung war Dave so liebevoll. Ich habe ihm geglaubt, als er sagte, eine Frau wie mich hätte er nie kennengelernt. Und er tat mir so leid, als er mir erzählte, er brauche das Geld für eine lebensnotwendige OP seiner Mutter.‹ Könnt ihr euch das vorstellen? Sie hat tatsächlich eine Hypothek auf ihr Haus aufgenommen, um ihm Geld zu geben!« Pam schnalzte mit der Zunge. »Haben diese Frauen eigentlich kein Hirn?«
Clive kam auf die Station, den Rucksack unterm Arm und eine schmuddelige Jeansjacke über dem Pflegerkittel.
»Guten Abend, Clive«, sagte Pam. »Bereit für die Nachtschicht?«
Clive murmelte etwas. Er sah schrecklich aus, war wieder unrasiert und wirkte ungepflegter denn je; seine Bartstoppeln umwucherten seine Lippen wie eine Flechte. Rechts und links von seiner Nase prangte ein Ekzem, und er machte den Eindruck, als hätte er sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Ganz offensichtlich war er nicht davon ausgegangen, die Nachtschicht mit Dawn zu verbringen.
Mandy hatte ihre Schicht hinter sich und machte sich zum Gehen bereit. Sie zog sich eine rosa Strickjacke über die Uniform.
»Heute gibt es nicht viel zu tun«, erklärte sie und überreichte Clive die Schlüssel für den Morphiumschrank. »Alle sind fertig für die Nacht. Oh, alle außer Lewis im Einzelzimmer.«
»Was ist denn mit ihm?«, fragte Dawn.
»Er ist heute Vormittag operiert worden und beschwert sich seitdem über Schmerzen. Aber ich habe ihm gerade ein wenig Morphium verabreicht, hoffentlich kann er schlafen.«
»Okay.«
»Seltsam, dass sich in letzter Zeit alle über Schmerzen beklagen«, sagte Mandy. »Auch Danielle hat sich den ganzen Tag beschwert. Na ja, immerhin scheint die letzte Gabe angeschlagen zu haben. Komisch, dass Lewis sich so anstellt, normalerweise nörgelt er nicht herum. Wie auch immer … Hoffentlich habt ihr eine ruhige Nacht. Bis morgen!«
Sie hängte sich die graue Beuteltasche über die Schulter und verschwand. Die Flügeltüren schlossen sich
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