Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
Vom Netzwerk:
Zeigefinger. Eine kleine Ampulle. Form und Größe kamen Dawn bekannt vor.
    »Was ist das?« Verwundert drehte Dawn die Ampulle in der Hand herum. Sie las die Aufschrift auf dem Etikett: Morphiumsulfat, 10 mg . Das Glas war unbeschädigt, aber seltsamerweise ragte etwas aus dem unteren Teil der Ampulle hervor. Eine Nadel steckte im Glas, genau zur Hälfte.
    Clive streckte die Hand aus. »Geben Sie mir das zurück. Es gehört mir.«
    »Aber das ist eine Morphiumampulle von der Station!« Dawn starrte die Nadel an. Litt sie unter Halluzinationen? Wie konnte eine Stahlnadel in einem Glasflakon stecken?
    »Sie ist nicht von der Station. Sie gehört mir. Das geht Sie nichts an.«
    Sein scharfer Ton ließ Dawn aufblicken. Clives Augen sahen irre aus. Seine Pupillen waren so groß, dass die Iris fast verschwunden war: zwei schwarze Scheiben vor einem blutunterlaufenen Hintergrund. Reizbarkeit, gepaart mit Antriebslosigkeit. Stark geweitete Pupillen.
    Dawn hatte Dr. Coultons Worte als Lügen abgetan. Als das selbstverliebte Geschwafel eines Besserwissers, der auf dem Holzweg war und dennoch meinte, recht zu haben. Schließlich wusste sie, dass es nicht Clive war, der den Morphiumschrank aufgebrochen hatte. Aber als sie nun dem zittrigen, aufgelösten Clive gegenüberstand, ergaben Dr. Coultons Worte plötzlich Sinn.

    Langsam sagte sie: »Sie haben es genommen, stimmt’s?«
    »Was denn?«
    »Das Morphium. Von der Station.«
    Clive lachte verächtlich. »Ich war nicht mal in der Nähe! Wenn Sie den Einbruch meinen.«
    »Nein, ich spreche nicht vom Einbruch.« Bei Dawn war der Groschen gefallen. Clives Verhalten, seine Einstellung. Dass er die Patienten hasste und dennoch unbedingt auf der Station bleiben wollte. »Sie haben es gestohlen, nach und nach. Sie sind in den Lagerraum gegangen und haben sich bedient, wann immer Sie den Schlüssel hatten.«
    »So ein Blödsinn. Wie hätte ich das anstellen sollen? Überprüfen Sie die Liste. Keine einzige Ampulle fehlt.«
    Nein, die Ampullen waren alle da. Zumindest sah es so aus. Dennoch hatte Clive das Morphium gestohlen. Und auf einmal wusste sie, wie er es gemacht hatte. Sie hatte von einem anderen, ähnlichen Fall gelesen. Es war in einem Krankenhaus in Amerika passiert …
    »Sie haben das Morphium aus den Ampullen gezogen«, sagte sie, »und durch eine andere Flüssigkeit ersetzt, damit niemand etwas merkt. Und dann haben Sie die Ampullen in den Schrank zurückgelegt.«
    »Sie sind ja verrückt.«
    Der Dieb in dem amerikanischen Krankenhaus hatte die Nadel erhitzt, bis sie glutrot war, und damit dann das Glas durchstochen. Beim Herausziehen der Nadel war das Loch wieder zusammengeschmolzen. Niemand hatte die Manipulation bemerkt.
    Aber wie hatte Clive es angestellt? Wie hatte er das Glas durchdrungen? In dem kleinen Raum war es eiskalt; offenbar hatte er ohne Hitze gearbeitet. Dawn sah sich schnell um: die Kabine, das Waschbecken, der Schlüsselbund zwischen den Wasserhähnen. Dann fiel ihr Blick wieder auf Clive, der
etwas unter seinem Kittel verbarg, und auf einmal wusste sie, was für einen Summton sie gehört hatte.
    »Sie haben einen Bohrer«, sagte sie.
    »Was, zum Teufel, reden Sie da?«
    »Wie ein Zahnarzt. Um das Glas aufzubohren. Ein winziges Loch, kaum zu sehen, aber es ist da. Sie verstecken den Bohrer unter Ihrem Kittel.«
    »Das ist Blödsinn. Blödsinn! Ich muss Ihnen nicht erklären, was …«
    »Wenn ich Sie nicht erwischt hätte, hätten Sie das Morphium aus der Ampulle gezogen und ersetzt. Womit? Wasser? Kochsalzlösung? Sie hätten das Loch verschlossen … Ich weiß nicht, wie, aber wir haben es nicht bemerkt. Sie müssen also eine Methode gefunden haben. Und dann haben Sie die Ampulle in den Schrank zurückgelegt, und niemand hat etwas gemerkt. Außer natürlich …«
    Dawn hielt inne.
    »Lewis. Verdammt noch mal! Deswegen hat er so gelitten. Wir haben ihm den ganzen Tag Morphium gespritzt, es hat nicht gewirkt, und keiner wollte ihm glauben. Und er ist nicht der Einzige! Danielle hat es ebenfalls zu spüren bekommen, die junge Frau, die wegen ihres Morbus Crohn operiert wurde.« Clive wollte etwas sagen, aber sie fuhr ihm über den Mund, wurde in ihrer Wut immer lauter. »Sie liegt da draußen in ihrem Bett und hat eine riesige Narbe am Bauch, von oben bis unten. Und wir spritzen ihr Wasser , verdammt noch mal! Wie viele …«
    Wieder verstummte Dawn. Sie spürte ein Kribbeln im Gesicht, eine Welle aus heißen Nadelstichen auf der Haut. Ihre Ohren

Weitere Kostenlose Bücher