Die sanfte Hand des Todes
Carmichael auf der Intensivstation aufgetaucht, weil er das Mittel unbedingt an einem seiner Patienten probieren wollte. Er hat sich aufgeregt, als ich ihm erklärte, dass das Medikament nicht nachgekauft wird und wir nichts mehr davon im Lager haben. Schließlich meinte Schwester Hartnett, sie würde auf Ihrer Station nachsehen. Hat sie Ihnen das nicht gesagt?«
»Nein.«
»Es war wirklich seltsam. Wir wollten Dr. Carmichael erklären, dass Dipyridamol im St. Iberius nicht mehr eingesetzt wird, aber er sagte, schauen Sie auf Schwester Torridges Station nach, jede Wette, dass sie noch welches hat. Und so war es dann auch. Dr. Carmichael war sehr stolz und
hat immer wieder erklärt, sehen Sie, ich hab’s doch gewusst. Sind Sie sicher, dass Schwester Hartnett Ihnen nichts davon erzählt hat?«
»Ja«, sagte Dawn. »Sie muss es vergessen haben.«
»Oh.« Seema zuckte die Achseln. »Wie auch immer, die Apotheke bittet Sie um eine Bestätigung, dass Sie keinen Nachschub brauchen. Das Mittel wird dann von Ihrer Liste gestrichen. Wenn Sie bitte hier unterschreiben würden – ich habe das Formular schon ausgefüllt …«
Die junge Frau hielt ihr die aufgeschlagene Mappe hin. Dawn unterzeichnete an der markierten Stelle. Dann fiel ihr das Datum oben rechts ins Auge. Der siebenundzwanzigste April.
Geistesabwesend meinte sie: »Das Datum sagt mir irgendwas.«
Seema beugte sich vor. »Hat an dem Tag nicht die große Forschungskonferenz stattgefunden?«
»Ja, natürlich«, sagte Dawn. »Das war’s.«
»Danke, Schwester. Tausend Dank.« Freudestrahlend nahm Seema den Ordner wieder an sich und verschwand. Dawn trat durch die Glastüren ins Freie und blieb auf den Stufen vor dem Krankenhaus stehen.
Das Datum auf dem Formular. Sie hatte natürlich sofort gewusst, warum es ihr so bekannt vorgekommen war. Die Forschungskonferenz am siebenundzwanzigsten April.
Mrs. Walkers Todestag.
Der Tag, an dem Francine im Lagerraum gewesen war, um sich Dipyridamol zu borgen und Dawn nichts davon zu erzählen.
Die Sonne blendete sie. Der Hügel lag im Schatten des Krankenhauskomplexes. Auf dem Parkplatz roch es nach Autoabgasen und Teer. Und die Erkenntnis rieselte auf Dawn nieder wie kalter Regen.
Francine. Die zarte, zierliche Francine, die im dunklen Lagerraum herumgekramt hatte, direkt gegenüber vom Einzelzimmer. Francine, die die Niederlage lächelnd weggesteckt und Dawn Blumen geschickt hatte, um ihr zur Beförderung zu gratulieren. Die ihr versichert hatte, es sei in Ordnung so. Francine, die so zerbrechlich wirkte wie eine Porzellanpuppe und die sich dennoch durchsetzte, wann immer es darauf ankam.
Francine, die gesagt hatte, wenn Blicke töten könnten, hätte sie schon mehr als einen Mann unter die Erde gebracht.
Dawn drehte den Kopf, um der Sonne auszuweichen. Sie fühlte nichts. Nun war es auch egal. Vielleicht war Gordon Farnley Aktionär eines skrupellosen Konzerns, vielleicht war er ein Monster, das Menschen in die Arbeitslosigkeit und ins Unglück trieb, vielleicht hatte er es nicht besser verdient. Aber er war immer noch ihr Patient, und es war ihre Aufgabe, ihn zu beschützen. Und so lange würde sie nichts mehr fühlen. Sie durfte sich nicht ablenken lassen. Alles war schiefgegangen. Aber diesmal wusste sie wenigstens, was zu tun war. Sie würde das Richtige tun.
Während sie bergab lief, musste sie immer wieder an Francine denken. Francine mit dem schneeweißen Kittel, dem schneeweißen Lächeln. Mit der heiteren, tröstlichen Art, die die Patienten so schätzten. Sie, die Schwester von der Intensivstation, die sich überall im Krankenhaus frei bewegen und alle Räume betreten konnte.
Kein Grund zur Panik. Noch war alles in Ordnung. Francine konnte Mr. Farnley nichts anhaben, zumindest jetzt nicht, wo er im OP-Saal lag. Er würde noch mindestens drei Stunden dort bleiben, bewacht und beobachtet von mehreren Mitarbeitern. Und danach würde man ihn in ein Vierbettzimmer bringen. Er würde an Monitore angeschlossen direkt gegenüber vom Schwesternzimmer liegen
und keine Sekunde allein sein. Francine konnte ihm nichts anhaben.
Niemand konnte ihm etwas anhaben.
Dawn machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle.
Kapitel 19
Der krumme Laburnum Crescent endete in einer Sackgasse und wurde von Platanen und kleinen roten Backsteinhäusern aus verschiedenen Epochen gesäumt. Die meisten davon waren Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten, die Dawn an ihr eigenes Zuhause erinnerten. In manchen Gärten wucherte das
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