Die sanfte Hand des Todes
lauschte, wie das Bett mit quietschenden Rädern über den Flur rollte, bis das Geräusch verstummte und sich eine gespenstische Stille auf das Zimmer herabsenkte.
Erst als Dawn wieder im Flur stand, merkte sie, wie stickig es in Mr. Farnleys Zimmer gewesen war, wie wenig Luft sie dort bekommen und wie benommen sie sich eben noch gefühlt hatte. Einen Augenblick lang war sie vollkommen desorientiert gewesen.
Daphne kam auf sie zu.
»Hallo, Dawn. Alles erledigt?«
Dawn konnte Mr. Farnleys Bett vom Flur aus sehen. Die Decke war verschwunden und das Laken verrutscht, so dass die Matratze hervorlugte. Das Gebiss im Glas auf dem Nachtschrank sah aus wie die letzten Überreste eines Schädels.
Dawn drehte sich abrupt zu Daphne um.
»Ich muss Sie um etwas bitten«, sagte sie. »Würden Sie so nett sein und Mr. Farnley nach der OP in einem Zimmer am anderen Ende des Korridors unterbringen?«
»Keine Angst, Dawn, wir werden uns um ihn kümmern und dafür sorgen, dass er seine Ruhe hat.«
»Nein! Keine Ruhe. Er sollte unter Beobachtung bleiben. Er gehört auf eine belebte Station, unter Menschen, die ihn im Blick haben.«
Daphne runzelte die Stirn. »Gibt es dafür irgendwelche medizinischen Gründe?«
»Vielleicht. Versprechen Sie mir einfach, dass er nicht allein sein wird. Keine einzige Minute, nicht einmal in der Nacht.«
»Also …«
»Versprechen Sie es mir?«
»Na schön.« Daphne wirkte verunsichert. »Also gut. Ich verspreche es.«
In leicht schnippischem Tonfall ordnete sie Mr. Farnleys Verlegung in das Zimmer gegenüber vom Schwesternzimmer an. Dawn verfolgte, wie eine Schwesternschülerin die Kissen aufschüttelte. Es handelte sich um ein Vierbettzimmer,
in dem bereits drei Patienten lagen. Als Mr. Farnleys Habseligkeiten aus dem alten ins neue Zimmer gebracht worden waren, fiel Dawn ein Stein vom Herzen. Aber die Maßnahmen reichten noch nicht aus; sie hatte Mr. Farnley bisher nicht vor der Gefahr warnen können, in der er schwebte. Nun musste sie seine Rückkehr aus dem OP-Saal abwarten. Das Problem war, dass er möglicherweise die nächsten Stunden dort verbringen und danach wahrscheinlich von der Narkose schläfrig sein würde. Selbst wenn er in der Lage wäre zuzuhören, würde er das meiste schnell wieder vergessen.
Sie tippte sich mit dem Fingernagel gegen die Schneidezähne. Sie erinnerte sich an Mr. Farnleys Adresse, die in der Akte stand. Wie oft hatte sie die Straße auf dem Weg zur Arbeit gesehen? Sie zweigte gleich hinter dem Tooting Bec Common von der Hauptstraße ab. Sie könnte dort vorbeigehen. Jetzt, während er operiert wurde. Vielleicht würde sie jemanden antreffen, mit dem sie reden konnte, irgendjemanden, der sich überzeugen ließ, bei Mr. Farnley zu bleiben. Möglicherweise wusste seine Familie sogar, warum er in Schwierigkeiten steckte. Sie könnte in einer halben Stunde dort sein, innerhalb der nächsten zwei wieder in der Klinik. Das wäre besser, als den ganzen Nachmittag hier herumzuhängen.
Sie verließ die Station und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss. Als sie an der Medikamentenausgabe mit dem grünen Kreuz vorbei- und auf den Ausgang zuging, rief jemand sie: »Schwester! Schwester!«
Dawn reagierte reflexartig auf diesen Ruf. Sie hatte sich umgedreht, noch bevor sie nachdenken konnte. Ein junges Mädchen in einem blauen Kittel eilte auf sie zu.
»Danke, dass Sie gewartet haben, Schwester. Ich war eben auf Ihrer Station, um Sie zu suchen.«
»Sie hätten mich nicht gefunden«, erklärte Dawn. »Ehrlich gesagt habe ich heute frei. Ich bin privat hier.«
»Oh.« Das Mädchen machte ein enttäuschtes Gesicht. Auf einmal erkannte Dawn sie. Gehörte sie nicht zu den Schwesternschülerinnen aus Francines Team? Sie hieß Salma. Nein – Seema. Schüchtern hielt das Mädchen ihr eine grüne Mappe hin. »Ich wollte Sie nur um eine Unterschrift bitten.«
»Was ist das?«
»Unser Medikamentenverzeichnis. Wir haben uns vor ein paar Wochen etwas von Ihrer Station geliehen. Es tut mir leid, aber wir haben es immer noch nicht ersetzt. Die Apotheke sagt, es wird nicht mehr geliefert.«
»Wie heißt das Mittel denn?«, fragte Dawn.
»Oh.« Seema klappte die Mappe auf. »Das muss ich nachsehen.« Sie blätterte die Seiten um. »Es hat einen komischen Namen. Dip… Dipyrid…«
»Dipyridamol«, sagte Dawn. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass etwas fehlt, und wusste auch nicht, dass es überhaupt noch verwendet wird.«
»Ich auch nicht, Schwester. Aber neulich ist Dr.
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