Die sanfte Hand des Todes
zog sie um und gab ihr ihre Medikamente. Dora beschwerte sich über die viele Zeit, die die Enkelin bei ihr verbrachte.
»Geh zu deinem Freund zurück«, sagte sie immer wieder. »Der Pflegedienst kümmert sich gut um mich.« Aber sie war immer noch gebrechlich und nah am Wasser gebaut, und Dawn wusste, dass sich ihre Großmutter mit niemandem so wohlfühlte wie mit ihr. Außerdem war sie diese Art von Arbeit aus dem Krankenhaus gewohnt. Sanft säuberte sie Doras Augen und Ohren, putzte ihr die Zähne, hob sie aus dem Bett, bestand darauf, dass sie ihre Übungen machte. Und langsam ging es Dora besser. Das Gefühl kehrte in ihre
Beine und den rechten Arm zurück, und ihre Worte wurden verständlicher. Sie kam im Rollstuhl voran und konnte verbal um Sachen bitten, während sie zuvor hauptsächlich mit den Augen kommuniziert hatte. Es würde funktionieren. Obwohl die Ärzte Bedenken äußerten, würde Dora allein zurechtkommen.
Kevin wurde langsam ungeduldig.
»Das ist doch verrückt«, beschwerte er sich, als Dawn wieder einmal anrief, um ihm mitzuteilen, dass sie wegen einer neuerlichen Lungenentzündung der Großmutter nicht nach London kommen könne. »Führen wir eine Beziehung oder nicht?«
Kevin. Dunkelhaarig, lebhaft, fußballverrückt. Der Mann, von dem Dawn immer gedacht hatte, dass sie ihn heiraten würde.
Sie hatte ihn bei einer Party in der Wohnung von Judys Freund kennengelernt, als sie neunundzwanzig Jahre alt gewesen war. Die Jungs, mit denen er jeden Dienstagabend Fußball spielte, hatten versucht, auf dem Küchentisch eine menschliche Pyramide zu bilden. Sie waren abgestürzt, und Kevin kam ganz unten zum Liegen. Er war unglücklich gelandet und hatte sich am Handgelenk verletzt. Schnell zerrten die in Panik geratenen Fußballer Dawn in die Küche, damit sie die Verletzung begutachten und mit einem Eisbeutel kühlen konnte. Kevin brachte sie mit einem charmanten Spruch zum Lachen; nun müsse er wegen Herzklopfen ins Krankenhaus. Am nächsten Tag trafen sie sich zum Mittagessen am Camden Market. Eine Woche später lud er sie zu Les Misérables ein, und von da an nahmen die Dinge ihren Lauf.
Sie waren sehr glücklich gewesen; Dawn dachte bis heute gern an diese Zeit zurück. Damals hatten sie viele Bekannte gehabt, allesamt kinderlos. Sie hatten Partys gefeiert,
sich zum Essen getroffen und waren zu achtzehnt in den Skiurlaub nach Andorra gefahren. Nach einem Jahr hatten Dawn und Kevin beschlossen, zusammenzuziehen. Dawn schaffte all ihr Hab und Gut in Kevins Wohnung, ein Zweizimmerapartment mit winzigem Dachgarten in der Nähe der Waterloo Station. Die Wohnung lag nur einen kurzen Spaziergang von der Themse und dem britischen Filminstitut entfernt; bis zur Oxford Street und zum Westend waren es nur wenige U-Bahn-Stationen. An lauen Sommerabenden aßen sie auf dem Dach zu Abend, mit Blick auf das London Eye, das sich über den Schornsteinen drehte. Dawn legte ihre nackten Füße auf die von der Sonne warme Mauer und erzählte Kevin von den komischen oder haarsträubenden Erlebnissen, die sie an diesem Tag bei der Arbeit gehabt hatte.
»Wir konnten Mr. Cromwells Gebiss nirgendwo finden. Und dann hat der Student vorgeschlagen, im Nachtstuhl nachzusehen …«
Nach einer gewissen Zeit stellte sich die Frage nach einer Eigentumswohnung. Natürlich kam es zu Diskussionen. Kevin wollte in London bleiben. Dawn konnte sich vorstellen, in einen Vorort zu ziehen, um einen eigenen Garten und am Wochenende ihre Ruhe zu haben. Sie stritten wegen Kleinigkeiten. Ihre Freunde sagten: »Bestimmt seid ihr bald verheiratet.« Bei dem Gedanken fühlte Dawn sich sicher und geborgen. Sie passten gut zusammen. Sie hatten die gleichen Interessen – im Winter spazierten sie am Regent’s Canal entlang, im Sommer an der Themse. Sie mochten indisches und libanesisches Essen – in diesen Restaurants gefiel es Kevin immer am besten, da man eine ganze Auswahl von Gerichten bestellen konnte und sich nicht auf ein einziges festlegen musste.
Manchmal konnte er sehr launisch sein.
»Gott sei Dank ist es vorbei«, grummelte er eines Abends
auf dem Nachhauseweg von einer Party, die Dawns Krankenschwesterfreundinnen veranstaltet hatten. »Könnt ihr eigentlich auch über etwas anderes als eure Patienten und das Krankenhaus und Krankheiten reden?«
»Natürlich.«
»Tja, warum tut ihr es dann nicht? Drei Stunden lang musste ich mir mit anhören, wie Michelle die Farbe von irgendjemandes Unterschenkelgeschwür beschreibt, und
Weitere Kostenlose Bücher