Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
Vom Netzwerk:
an dem die neun Kommissionsmitglieder mit versteinerter Miene saßen. Die Vorsitzenden starrten in ihre Akten und weigerten sich, Dawn direkt anzusehen. Dann ertönte eine laute Stimme: Bitte machen Sie Platz für die Hauptbelastungszeugin , und rechts von Dawn begann ein hektisches Treiben. Dawn schaute sich um. Jemand wurde in den Zeugenstand geführt. Sie konnte außer dem Stiernacken des bulligen Gerichtsdieners nichts erkennen und wartete darauf, dass er beiseite trat. Bald würde sie erfahren, wer der »Gratulant« war. Bald würde der Erpresser ihr in die Augen blicken und sich erklären müssen, anstatt sich hinter Pseudonymen und falschen Mailadressen zu verstecken. Aber als der Gerichtsdiener sich endlich zurückzog und den Blick auf die Hauptbelastungszeugin freigab, starrte Dawn in das rachsüchtige Gesicht von Ivy Walker.
    »Oberschwester? Oberschwester! «
    Dawn zuckte zusammen. Sie stand zwischen lauter Menschen in weißen Kitteln. Professor Kneebone befand sich direkt vor ihr und hob besorgt die Augenbrauen.
    »Willkommen zurück, Oberschwester. Ich hatte gefragt, ob Sie einverstanden sind, dass wir Mr. Cantwell heute entlassen.«
    Der bärtige Mr. Cantwell trug einen fröhlich gepunkteten Pyjama und sah Dawn erwartungsvoll an.
    »Ja«, sagte sie, »ja, natürlich.«
    Geoffrey Kneebone musterte sie immer noch. Schnell senkte sie den Kopf, um einen Eintrag im Visitenbuch vorzunehmen. Das hatte gerade noch gefehlt! Auf keinen Fall durfte sie weitere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie nahm sich vor, sich für den Rest der Visite zusammenzureißen.
    Sie war erleichtert, als sie sich nach dem Rundgang endlich wieder in ihr Büro zurückziehen und die Tür hinter sich schließen konnte. Sie setzte sich an den Schreibtisch und
starrte auf den dunklen Computermonitor. Das war doch lächerlich. Nun hockte sie schon wieder in ihrem Kämmerchen wie ein Käfer in seiner Ritze. Wie lang würde es so weitergehen? Wütend schaltete Dawn den Computer ein. Zum hundertsten Mal, seit sie den Umschlag eingeworfen hatte, überprüfte sie ihren Posteingang. Immer noch keine Antwort.
    Das Telefon schnurrte. Sie griff zum Hörer. »Guten Morgen. Sie sind mit dem Büro der Oberschwester verbunden.«
    »Dawn!« Eine tiefe, viel zu laute Frauenstimme. »Hier spricht Claudia!«
    Claudia Lynch! Plötzlich hatte Dawn das Gefühl, in einem Aufzug zu stehen, dessen Stahlseile gerissen waren. Die pflegerische Leitung rief sie an. Was wollte sie?
    »Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«
    »Nun ja …«
    »Wunderbar! Ich bin gleich da.« Claudia legte auf.
    Dawn saß sekundenlang wie erstarrt da, bis sie den Hörer schließlich in Zeitlupe auflegte. Noch nie war Claudia vorbeigekommen, um »kurz« mit ihr »zu sprechen«. Sie war viel zu beschäftigt, um unangekündigt auf einer Station aufzutauchen. Claudia verschickte Memos, verfasste Rundschreiben und legte Konferenztermine Monate im Voraus fest. Das war es dann wohl. Sie wusste Bescheid! Dawn fragte sich zwar, woher, aber Claudia wusste Bescheid. Dawns Sichtfeld verschwamm. Auf ihrem Schreibtisch hatten sich Stifte, Akten und zerknüllte Seiten angesammelt. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, nach ihrer Schicht am Freitag aufzuräumen. Am besten, sie holte es gleich nach, während sie auf Claudia wartete. Während sie noch das Recht hatte, sich hier aufzuhalten. Mit tauben Fingern stellte sie Stifte in den Becher zurück, warf alte Post-its in den Müll und sortierte Patientenakten ein, als brauchte sie sie nicht mehr.

    »Guten Morgen!« Claudia segelte in den kleinen Raum herein und brachte einen Luftzug mit, als käme sie von draußen. »Wie geht es Ihnen heute?«
    Ihre Stimme war noch zwei Stockwerke tiefer zu hören. Selbst wenn Claudia ein ganz normales Gespräch führte, klang sie, als wollte sie sich von einem gekenterten Boot aus verständlich machen. Es schien offenbar kein Hindernis zu sein, wenn man ins Klinikmanagement aufsteigen wollte. Dass sie selbst Patienten betreut hatte, lag Jahre zurück; aber sie war gut darin, die Interessen der Kranken zu vertreten, sie zu verteidigen und sich mit aller Macht Gehör zu verschaffen. Ihr knappes kastanienbraunes Kostüm hatte mehr oder weniger die Farbe ihrer Wangen.
    Dawn spürte, wie sich ihre Gesichtsmuskeln verspannten. Wahrscheinlich sah sie verzweifelt und erbarmungswürdig aus, aber sie erhob sich und sagte in möglichst gelassenem Ton: »Guten Morgen, Claudia!«
    »Ich werde mich kurz fassen«, begann Claudia.

Weitere Kostenlose Bücher