Die sanfte Hand des Todes
»Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind. Ich muss ganz kurz wegen der Diebstähle mit Ihnen sprechen.«
»Wegen der Diebstähle?«
»Ja. In jüngster Zeit. Jim Evans hat mir erzählt, dass Ihr Spind aufgebrochen wurde?«
Dawn musste nachdenken. Der Einbruch in der Umkleide. Ihr zerrissener Mantel. War es vor Wochen oder Monaten geschehen?
»Ja«, sagte sie, »ja, genau.«
»Tja, es ist zu weiteren Vorfällen gekommen«, fuhr Claudia fort. »Drei Mitarbeitern der Notaufnahme wurde Geld gestohlen. Und auch von einigen Patienten liegen Beschwerden vor. Jim Evans möchte, dass wir ein Videoüberwachungssystem auf allen Etagen installieren. Ich bin seiner Meinung und habe mir vorgenommen, das Thema bei der nächsten
Etatkonferenz zur Sprache zu bringen. Leider habe ich ausgerechnet in der Woche ein Seminar in Birmingham. Deswegen wollte ich Sie um etwas bitten, Dawn. Würden Sie mich bei der Konferenz vertreten? Sie wären die ideale Fürsprecherin, schließlich sind Sie selbst betroffen.«
Dawn versuchte nach Kräften, der Unterhaltung zu folgen. Deswegen war Claudia zu ihr gekommen?
»Natürlich«, antwortete sie. »Ja, ich kann Sie vertreten.«
»Wunderbar. Ihnen wird man zuhören. Wenn eine Oberschwester zum Opfer wird, macht das Eindruck.« Claudia runzelte die Stirn. »Wissen Sie, Dawn, es verwundert mich ein wenig, dass Sie mir nie davon erzählt haben. Ich an Ihrer Stelle hätte die Sache sehr ernst genommen.«
»Ja, ich weiß …« Dawn wurde beinahe schwindlig vor Erleichterung. »Irgendwie bin ich einfach nicht dazu gekommen.«
»Sie arbeiten zu viel«, meinte Claudia. »Sie sollten mal mit zum Segeln kommen. Wenn man in einem Boot sitzt, hat man nur noch eine Sorge: die Windrichtung.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Nun gut. Ich muss los. Ich habe heute Vormittag noch drei Besprechungen und bin jetzt schon zu spät dran.«
Sie sprang auf und war aus dem Zimmer gerauscht, noch bevor Dawn überhaupt registriert hatte, dass die Unterhaltung beendet war. Claudia hatte keine Ahnung! Sie wusste nichts über Mrs. Walker. Erleichtert ließ Dawn sich auf ihren Platz sinken. Ihr schmerzten immer noch die Wangen von dem aufgesetzten Grinsen, das nur langsam aus ihrem Gesicht verschwand.
Zum ersten Mal verdichtete sich die diffuse Angst in ihrer Magengegend zu einer handfesten Wut. Dies war ihr Büro. Ihre Station. Sie sollte sich nicht verstecken müssen. Und sich nicht lächelnd dem Willen von Hinz und Kunz beugen.
Sie schlich herum wie ein verängstigtes Mäuschen und drückte sich in irgendwelche Ecken, während der Erpresser munter herumlief und glaubte, das Sagen zu haben. Nun, sie hatte die Nase voll. Sie war die Oberschwester hier, ob es dem »Gratulanten« nun passte oder nicht. Ihr waren nicht vollkommen die Hände gebunden.
Sie straffte die Schultern, riss die Schreibtischschublade auf und zog den Dienstplan heraus. Falls diese Person, wer immer sie auch war, sich an Dawns Qualen ergötzen wollte, hatte sie sich geschnitten. Dawn reichte es; sie würde Urlaub nehmen. Schon nächste Woche, falls das möglich war. Sie konnte mit dem Erpresser von zu Hause aus genauso gut kommunizieren wie von hier, nur dass es ihr viel leichter fiele, die Zeit durchzustehen, wenn sie sich dabei nicht von heimtückischen Blicken beobachtet fühlte. Sie hatte mit dem Urlaub warten wollen, bis Priya aus dem Mutterschutz zurückkehrte, aber sie hielt es nicht länger aus. Mandy würde ihre Pflichten übernehmen, und bei allen wichtigen Fragen könnte sie sich an Francine wenden, die sich gleichzeitig mit Dawn auf die Oberschwesterprüfung vorbereitet hatte und sich auskannte.
Dawn trug sich für die kommende Woche als abwesend ein. Bitte sehr. Nun musste sie nur noch diese Woche überstehen. Aber auch das würde ihr gelingen. Sie blätterte weiter, bis sie bei den Dienstplänen für die Nachtschicht angelangt war.
Normalerweise übernahmen Stationsleiter und Oberschwestern keine Nachtschichten. Aber Dawn hatte sich immer wieder freiwillig eingetragen, nur um im Bilde zu sein, was nachts im Krankenhaus vor sich ging. Jetzt war sie froh darüber; niemand würde Verdacht schöpfen, wenn sie in die Nachtschicht wechselte. Nachts waren weniger Mitarbeiter anwesend; weniger Menschen, denen sie aus dem Weg gehen
musste. Sie studierte den Dienstplan. In dieser Woche waren noch zwei Nachtschichten unbesetzt, am Freitag und am Samstag. Im Notfall griff das Krankenhaus auf eine Leihkraft zurück; aber nun würde Dawn
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