Die sanfte Hand des Todes
persönlich einspringen. Sollte die externe Schwester doch ihre Tagschichten übernehmen! Der Plan war perfekt. Sie trug ihre Initialen in den Plan ein. Zufrieden stellte sie fest, dass der zweite Mitarbeiter der Nachtschichten von Freitag und Samstag Clive war. Normalerweise war er der Letzte, mit dem sie zusammenarbeiten wollte, aber ironischerweise war er momentan von allen Kollegen derjenige, in dessen Gegenwart sie am ehesten sie selbst sein konnte.
Sie klappte den Aktenordner zu und lehnte sich zurück. Sie fühlte sich so erschöpft, als hätte sie jeden einzelnen Patienten ihrer Station eigenhändig hochgehoben. Aber es fühlte sich gut an, überhaupt etwas getan zu haben, um die Kontrolle zurückzubekommen. Dawn hörte das vertraute Rattern, als zwanzig Meter unter dem Fenster der nächste Zug über die Eisenbahnbrücke donnerte. Einer von mehr als zweitausend, die täglich den Bahnhof Clapham Junction passierten. Das Pfeifen der Züge gehörte genauso zum Hintergrundgeräusch des Krankenhauses wie das Murmeln der Patienten, das Klappern der Teewagen und das stete Piepen der Herzmonitore und Infusionspumpen.
Dies ist meine Station , dachte Dawn und knallte die Schublade zu. Mein Krankenhaus. Hier habe ich das Sagen.
Die E-Mail vom »Gratulanten« kam am nächsten Tag.
Sie trudelte kurz vor der Mittagspause ein. Als Dawn das Mailprogramm öffnete und die Worte Achtung, an Oberschwester Torridge, chirurgische Abteilung las, hätte sie den Kopf vor Erleichterung fast auf die Tastatur sinken lassen. Das Warten schien vorbei zu sein. Was in der Mail stand,
war egal – wenigstens wüsste sie nun, womit sie zu rechnen hatte.
Als sie die Nachricht anklicken wollte, erschien eine Warnung auf dem Bildschirm. Öffentliches Netzwerk. E-Mails können von Dritten gelesen werden . Dawns Finger schwebten über den Tasten. Machten sich die Administratoren der EDV-Abteilung tatsächlich die Mühe, in den beruflichen Mails der anderen herumzuspionieren? Doch sie durfte kein Risiko eingehen. Es wäre unbesonnen, vielleicht sogar waghalsig, die Mail hier zu öffnen. Sie zog die Hand zurück und steckte sie wie die andere zwischen die Knie. Wie sollte sie es bis nach Feierabend aushalten? Der Pager an ihrem Gürtel begann zu brummen. Dawn sah nach. Mrs. Ford in Bett vier wartete auf eine neue Trachealkanüle. Dawn konnte ohnehin nichts weiter tun, als den Computer auszuschalten und auf die Station zu gehen.
Elspeth stand an Bett vier und hielt den Tracheostomawagen bereit. Trudy neben ihr hatte die behandschuhten Hände in der korrekten Position oberhalb der Taille. Sie war nur zum Zuschauen hier, denn sie hatte die Prozedur noch nie miterlebt. Dawn schaffte es nicht, die Frauen anzusehen. Sie wandte sich direkt der Patientin zu.
»Hallo, Mrs. Ford. Wie geht es Ihnen?«
Mrs. Ford, eine dünne, energische Frau Mitte fünfzig, schüttelte die Hand, um ihre Besorgnis auszudrücken. Wegen des Plastikschlauchs in ihrem Hals konnte sie nicht sprechen.
»Es dauert nicht lange«, versprach Dawn. »Ihr alter Schlauch verstopft immer wieder, aber mit dem neuen wird es Ihnen gleich viel besser gehen. Möglicherweise löst der Wechsel einen Hustenreiz aus. Drücken Sie meine Hand, wenn Sie etwas stört.«
Sie warf einen Blick zu dem Wagen hinüber, den Elspeth
vorbereitet hatte. Sterile Kompressen, ein frisches Kanülenset, saubere Fixierbänder.
»Wo ist das Absauggerät?«, fragte sie.
»Ups, tut mir leid.« Elspeth entrollte einen Schlauch und befestigte ihn an dem sterilen Absauggerät unten im Wagen.
»Okay«, sagte Dawn, »los geht’s.«
Es fiel ihr immer noch schwer, Trudy oder Elspeth ins Gesicht zu schauen. Stattdessen kommunizierte sie indirekt mit ihnen, über Mrs. Ford.
»Nun werden wir die Fixierbänder der alten Kanüle lösen. Und kurz bevor wir sie ganz entfernen, müssen wir Ihre Luftwege einmal gründlich absaugen.«
Auf diese Weise konnte sie Elspeth genaue Anweisungen erteilen, ohne sich von der Patientin abwenden zu müssen. Sie behielt Sheila Fords Gesicht immer im Blick, wartete auf eine Grimasse oder ein Zukneifen der Augen, das Unwohlsein signalisieren könnte.
»Jetzt kommt der Schlauch«, sagte sie. »Vielleicht müssen Sie kurz husten.«
Sie musste. Als die Kanüle aus dem Loch in ihrem Hals glitt und gelber Schleim herausquoll, hustete Mrs. Ford so heftig, dass ihr Kopf vom Kissen gehoben wurde. Sie lief dunkelrot an, und ihr linkes Auge fing zu tränen an. Das raue, abgehackte Geräusch
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