Die Satanischen Verse
spindeldürre Beine mit fast schon monströser Behaarung entblößt, springt hoch hinauf in die Nachtluft, wirbelt herum und lässt sich auf Gibrils Schultern nieder, klammert sich an ihm fest mit Fingernägeln, die zu langen gebogenen Krallen gewachsen sind. Gibril spürt, wie er sich in die Lüfte erhebt, den alten Mann des Meers auf seinem Rücken, den Imam, dessen Haar mit jeder Minute länger wird, in jede Richtung wallt; seine Augenbrauen sind wie Wimpel im Wind.
Jerusalem, denkt er, in welcher Richtung liegt das? Und dann, es ist ein heikles Wort, es kann ein Ort sein, aber auch eine Idee, ein Ziel, eine Leidenschaft. Wo liegt das Jerusalem des Imam? »Der Fall der Metze«, hallt die geisterhafte Stimme in seinen Ohren nach. »Der Sturz der babylonischen Hure.«
Sie sausen durch die Nacht. Der Mond erhitzt sich, beginnt Blasen zu bilden, wie Käse im Grill; er, Gibril, sieht ab und zu Stücke herabfallen, Mond-Tropfen, die zischen und blubbern auf der heißen, gusseisernen Platte des Himmels. Dann taucht Land unter ihnen auf. Die Hitze wird stärker.
Es ist eine gewaltige Landschaft, rötlich, Bäume mit flachen Kronen. Sie fliegen über Berggipfel, die ebenfalls flach sind; selbst die Steine sind von der Hitze abgeflacht. Dann sehen sie einen Berg von nahezu konischer Form, einen Berg, der weit weg auch als Postkarte auf einem Kaminsims steht, und im Schatten dieses Berges eine Stadt, die an seinem Fuß ausgestreckt liegt wie eine Bittstellerin, und auf den unteren Hängen des Berges einen Palast, den Palast: den Palast der Kaiserin, die durch Radiobotschaften vernichtet wurde. Dies ist eine Revolution von Rundfunkamateuren.
Gibril, auf dem der Imam hockt wie auf einem Teppich, stößt im Sturzflug herab, und in der dampfenden Nacht sehen die Straßen aus, als wären sie lebendig, sie scheinen sich zu winden wie Schlangen, während vor dem Palast der kaiserlichen Niederlage ein neuer Hügel zu wachsen scheint, was geht hier vor, Baba, während wir zusehen? Die Stimme des Imam hängt in der Luft: » Lasse uns landen. Ich will dir zeigen, was Liebe ist.«
Sie sind in Höhe der Hausdächer, als Gibril erkennt, dass es überall wimmelt von Menschen. Menschliche Wesen, die sich in diesen gewundenen Straßen drängen, so dicht aneinander, dass sie aufgegangen sind in ein größeres, zusammengesetztes Ganzes, ein unaufhörliches Geschlängel. Die Menschen bewegen sich langsam, mit gleichmäßigen Schritten, durch Wege auf Gassen, durch Gassen auf Straßen, durch Seitenstraßen auf breitere Straßen, die allesamt auf eine große Prachtstraße zulaufen, zwölfspurig und von riesigen Eukalyptusbäumen gesäumt, und diese Straße führt zu den Palasttoren. Sie quillt über von Menschen, sie ist das vitale Zentrum dieses neugeschaffenen, vielköpfigen Wesens. Immer siebzig nebeneinander, so marschieren die Leute ernst auf die Tore der Kaiserin zu. Vor denen ihre Leibgarde in drei Reihen wartet, liegend, kniend und stehend, mit Maschinengewehren im Anschlag. Die Leute gehen den Hang hinauf, auf die Gewehre zu; immer siebzig auf einmal, so kommen sie in Schussweite ; die Gewehre plappern und sie sterben, und dann steigen die nächsten siebzig über die Leiber der Toten, die Gewehre kichern noch einmal, und der Hügel aus Toten wird höher. Die dahinter beginnen, der Reihe nach darüber zu klettern. In den dunklen Toren der Stadt stehen mit bedeckten Häuptern Mütter, die ihre geliebten Söhne auf die Straße stoßen, geh, sei ein Märtyrer, tu das Nötige, stirb. »Du siehst, wie sie mich lieben«, sagt die geisterhafte Stimme. »Keine Tyrannei auf Erden kann der Macht dieser langsam marschierenden Liebe standhalten.«
»Das ist keine Liebe«, entgegnet Gibril weinend. »Das ist Hass . Sie hat sie in Ihre Arme getrieben.« Die Erklärung klingt dünn, oberflächlich.
»Sie lieben mich«, sagt die Stimme des Imam, »weil ich Wasser bin. Ich bin Fruchtbarkeit, und sie ist Fäulnis. Sie lieben mich dafür, dass ich Uhren zerschlage. Menschen, die sich von Gott abwenden, verlieren Liebe und Sicherheit und dazu das Gefühl für Seine grenzenlose Zeit, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfasst , die zeitlose Zeit, die sich nicht zu bewegen braucht. Wir sehnen uns nach dem Ewigen, und ich bin die Ewigkeit. Sie ist ein Nichts, ein Tick oder ein Tack.
Sie sieht jeden Tag in ihren Spiegel und erschrickt bei dem Gedanken an das Alter, an die vergehende Zeit. Folglich ist sie die Gefangene ihrer eigenen Natur; auch sie
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