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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Geschichte.« Denn es gibt einen Feind jenseits von Aischa, und das ist die Geschichte selbst. Die Geschichte ist der Blutwein, der nicht länger getrunken werden darf. Die Geschichte, das Rauschmittel, die Schöpfung und das Eigentum des Teufels, des Schaitan, die größte aller Lügen - Fortschritt, Wissenschaft, Rechte -, der sich der Imam widersetzt. Die Geschichte ist eine Abweichung vom Pfad, Wissen ist eine Illusion, denn an dem Tag, als Al-Lah seine Offenbarungen an Mahound vollendete, war auch alles Wissen vollendet. »Wir werden den Schleier der Geschichte vernichten«, wettert Bilal hinaus in die lauschende Nacht, »und wenn wir ihn zerrissen haben, werden wir das Paradies dahinter liegen sehen, in all seinem Glanz und Licht.«
    Dass der Imam Bilal für diese Aufgabe erwählt hat, liegt an der Schönheit seiner Stimme, der es in ihrer vorherigen Inkarnation gelang, den Mount Everest der Hitparade zu erklimmen, nicht nur einmal, sondern dutzendmal, bis zur Spitze. Die Stimme ist voll und respekteinflößend; eine Stimme, die es gewohnt ist, dass man ihr zuhört; gutgenährt, hochtrainiert, die Stimme der amerikanischen Zuversicht, eine Waffe des Westens, die sich gegen ihre Schöpfer gewandt hat, deren Macht die Kaiserin und ihre Tyrannei stützt. In früheren Zeiten protestierte Bilal X
    gegen eine solche Beschreibung seiner Stimme. Auch er gehöre einem unterdrückten Volk an, wurde er nicht müde zu betonen, so dass es unfair sei, ihn mit den Yankee-Imperialisten gleichzusetzen. Der Imam antwortete nicht ohne Freundlichkeit: Bilal, dein Leiden ist auch das unsere. Aber im Hause der Macht erzogen zu werden, heißt, ihre Methoden zu erlernen, sie aufzusaugen, durch eben diese Haut, die der Grund für deine Unterdrückung ist. Die Gewohnheiten der Macht, ihr Timbre, ihre Haltung, ihre Art, mit Menschen umzugehen. Es ist eine Krankheit, Bilal, die jeden ansteckt, der ihr zu nahe kommt.
    Wenn die Mächtigen über dich hinwegtrampeln, stecken sie dich noch durch ihre Fußsohlen an.
    Bilal spricht weiter in die Dunkelheit. »Tod der Kaiserin Aischa und ihrer Tyrannei, dem Kalender, den Vereinigten Staaten, der Zeit! Wir suchen die Ewigkeit, die Zeitlosigkeit Gottes. Seine stillen Wasser, nicht ihren strömenden Wein.«
    Verbrennt die Bücher und vertraut dem BUCH; zerreißt die Papiere und hört das WORT, wie es der Engel Gibril dem Verkünder Mahound offenbart und wie es euer Deuter und Imam erläutert hat. »Amen«, sagt Bilal und beschließt damit die nächtliche Veranstaltung. Während der Imam in seinem Allerheiligsten eine eigene Botschaft aussendet: eine Anrufung, eine Beschwörung des Erzengels Gibril.
    Er sieht sich selbst in dem Traum: so stellt man sich keinen Engel vor; das ist nur ein Mann in gewöhnlicher Straßenkleidung, in Henry Diamonds posthum weitergegebenen Kleidungsstücken: Gabardinemantel und Filzhut, darunter übergroße Hosen, von Hosenträgern gehalten, ein Anglerpullover aus Wolle, ein bauschiges weißes Hemd.
    Dieser Traum-Gibril, der so sehr dem wachenden Gibril gleicht, steht zitternd im Allerheiligsten des Imam, dessen Augen weiß wie Wolken sind.
    Gibril spricht in nörgelndem Ton, um seine Angst zu verbergen. »Warum bestehen Sie auf einem Erzengel? Sie sollten doch wissen, dass die Zeiten vorbei sind.«
    Der Imam schließt die Augen, seufzt. Der Teppich streckt lange, haarige Ranken aus, die sich um Gibril wickeln, ihn festhalten.
    »Sie brauchen mich nicht«, betont Gibril. »Die Offenbarung ist vollendet. Lassen Sie mich gehen.«
    Der andere schüttelt den Kopf und spricht, nur dass seine Lippen sich nicht bewegen, und es ist Bilals Stimme, die Gibrils Ohren erfüllt, obgleich der Rundfunksprecher nirgendwo zu sehen ist, heute Nacht ist es soweit, sagt die Stimme, und du musst mich nach Jerusalem fliegen.
    Dann löst sich die Wohnung auf, und sie stehen auf dem Dach neben dem Wassertank, weil der Imam, wenn er sich bewegen möchte, still bleiben und die Welt um sich herum bewegen kann. Sein Bart weht im Wind. Er ist jetzt länger; wenn der Wind nicht wäre, der ihn erfasst , als wäre er ein wallender Chiffonschal, würd e er den Boden vor seinen Füßen berühren; der Imam hat rote Augen, und seine Stimme lungert um ihn herum am Himmel. Nimm mich mit. Gibril erhebt Einwände, sieht so aus, als könnten Sie das auch allein. Doch mit einer einzigen Bewegung von erstaunlicher Schnelligkeit wirft der Imam sich den Bart über die Schulter, schürzt seine Röcke, wobei er zwei

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