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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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eines Kreises.
    Er strahlt Bewegung aus, rund um die Uhr. Sein Sohn Khalid betritt das Allerheiligste; er bringt ihm ein Glas Wasser, trägt es mit der rechten Hand, hält die Linke unter das Glas. Der Imam trinkt ständig Wasser, alle fünf Minuten ein Glas, um sich sauberzuhalten; das Wasser wird, bevor er daran nippt, mit Hilfe eines amerikanischen Filterapparates von allen Verunreinigungen befreit. Die jungen Männer, mit denen er sich umgibt, kennen seine berühmte Monographie über das Wasser, dessen Reinheit, die sich, wie der Imam glaubt, dem Trinkenden mitteilt, seine Dünnflüssigkeit und Schlichtheit, die asketischen Freuden seines Geschmacks. »Die Kaiserin«, betont er, »trinkt Wein.« Burgunder, Bordeaux, weißer Rheinwein verteilen ihre berauschenden, verderblichen Einflüsse in diesem schönen und zugleich schmutzigen Körper.
    Genug an Sünden, um sie für alle Zeit zu verurteilen, ohne Hoffnung auf Erlösung. Das Bild an seiner Schlafzimmerwand zeigt die Kaiserin Aischa, wie sie mit beiden Händen einen menschlichen Schädel hält, der mit dunkelroter Flüssigkeit gefüllt ist. Die Kaiserin trinkt Blut, aber der Imam ist ein Mann des Wassers. »Nicht umsonst behandeln die Völker unserer heißen Länder es mit Ehrfurcht«, heißt es in der Monographie.
    »Wasser, Bewahrer des Lebens. Kein zivilisierter Mensch kann es einem anderen verweigern. Eine Großmutter - mögen ihre Glieder noch so steif sein vom Rheuma - wird sich sofort erheben und zum Wasserhahn gehen, wenn ein kleines Kind zu ihr kommt und bittet, Pani, Nani. Die ihr es nicht achtet, hütet euch! Wer es verunreinigt, schwächt seine Seele.«
    Der Imam hat schon oft seinen Zorn am Andenken des verstorbenen Aga Khan ausgelassen, wegen eines Zeitungsartikels, in dem das Oberhaupt der Ismailis dabei beobachtet wurde, wie er edlen Champagner trank. Ach, wissen Sie, Champagner ist das nur nach außen hin, sobald er meine Lippen berührt, verwandelt er sich in Wasser. Teufel, pflegt der Imam zu donnern. Abtrünniger, Gotteslästerer, Betrüger. Wenn die Zukunft kommt, werden solche Individuen gerichtet werden, erklärt er seinen Leuten. Der Tag des Wassers wird kommen, und Blut wird fließen wie Wein.
    Solcherart ist die wundersame Zukunft der Männer im Exil; was zuerst in der Ohnmacht einer überhitzten Wohnung geäußert wurde, wird zum Schicksal von Nationen. Wer hat diesen Traum nicht schon geträumt, König für einen Tag zu sein?
    Doch der Imam träumt von mehr als einem Tag, spürt, ausgehend von seinen Fingerspitzen, die Spinnenfäden, mit denen er die Bewegung der Geschichte kontrollieren wird.
    Nein: nicht Geschichte.
    Sein Traum ist seltsamerer Natur.
    Sein Sohn, der wassertragende Khalid, verneigt sich vor seinem Vater wie ein Pilger vor einem Schrein, unterrichtet ihn davon, dass der diensthabende Wächter vor dem Allerheiligsten Salman Farsi heißt. Bilal ist am Radiosender, übermittelt die Botschaft des Tages auf der vereinbarten Frequenz nach Desch.
    Der Imam ist eine gewaltige Ruhe, eine Reglosigkeit. Er ist lebender Stein. Seine großen knotigen Hände, grau wie Granit, ruhen schwer auf den Armstützen seines hochlehnigen Stuhles.
    Sein Kopf, der zu groß wirkt für den Körper, hängt über dem erstaunlich dürren Hals, den man durch die grauschwarzen Haarbüschel seines Bartes erkennen kann. Die Augen des Imam sind getrübt, seine Lippen bewegen sich nicht. Er ist reine Kraft, ein elementares Wesen; er bewegt sich ohne jede Regung, handelt ohne jedes Tun, spricht, ohne einen Laut von sich zu geben. Er ist der Geisterbeschwörer und die Geschichte ist sein Trick.
    Nein, nicht die Geschichte: etwas Seltsameres.
    Die Aufklärung dieses Rätsels kann man in genau diesem Augenblick auf bestimmten, geheimen Radiowellen hören, auf denen die Stimme des amerikanischen Konvertiten Bilal das heilige Lied des Imam singt. Bilal der Muezzin: seine Stimme wird aufgenommen von einer Amateur-Radiostation in Kensington und entlassen im erträumten Desch, umgewandelt zur donnernden Rede des Imam höchstpersönlich. Er beginnt mit rituellen Beschimpfungen der Kaiserin, mit der Auflistung ihrer Verbrechen, Morde, Bestechungen, sexuelle Beziehungen zu Echsen und so weiter, verkündet schließlich schallend den allabendlichen Auftrag des Imam an sein Volk, sich gegen das Unheil ihrer Staatsführung zu erheben. »Es wird eine Revolution geben«, erklärt de r Imam durch ihn, »eine Revolte nicht nur gegen eine Tyrannin, sondern auch gegen die

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