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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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großen Erleichterung der Kamele von Jahilia, deren Abneigung dagegen, mit durchgeschnittenen Kniesehnen auf den Gräbern der Menschen sitzen gelassen zu werden, durchaus verständlich war… kurzum: während Jahilia verfiel, blieb Hind unverändert, faltenlos, der Körper straff wie der einer jungen Frau, das Haar schwarz wie Krähenfedern, die Augen funkelnd wie Messer, die Haltung noch immer hochmütig, die Stimme noch immer keinerlei Widerspruch duldend. Hind, nicht Simbel, herrschte mittlerweile über die Stadt, das jedenfalls war unbestreitbar ihre Überzeugung.
    Während aus dem Granden ein schlaffer, kurzatmiger Greis wurde, ging Hind dazu über, Episteln oder Bullen zu verfassen, die zwecks Ermahnung der Stadtbevölkerung in allen Straßen angeschlagen wurden. So kam es, dass Hind und nicht Abu Simbel von den Jahiliern als Verkörperung der Stadt betrachtet wurde, als ihr lebendiges Avatara, denn sie erblickten in der Alterslosigkeit ihres Körpers und der unnachgiebigen Entschiedenheit ihrer Bekanntmachungen ein Abbild ihrer selbst, das ihnen sehr viel besser gefiel als das Spiegelbild, das ihnen aus Simbels verfallendem Gesicht entgegensah. Hinds Anschläge waren einflussreicher als die Verse der Dichter. Sie war sexuell noch immer unersättlich und hatte mit jedem Schriftsteller der Stadt geschlafen (wenn es auch lange her war, dass sie Baal in ihr Bett geholt hatte); jetzt waren die Schriftsteller aufgebraucht, ausrangiert, und sie war zügellos.
    Mit dem Schwert genauso wie mit der Feder. Sie war Hind, die, als Mann verkleidet, in das Heer von Jahilia eingetreten war, sich mit Zauberei vor Speeren und Schwertern zu schützen gewusst und im wildesten Kriegsgetümmel den Mörder ihrer Brüder ausfindig gemacht hatte. Hind, die den Onkel des Propheten schlachtete und Leber und Herz des alten Hamza verzehrte.
    Wer vermochte ihr zu widerstehen? Die Leute verziehen ihr, wegen ihrer ewigen Jugend, die auch die ihre war, wegen ihrer Unbändigkeit, die ihnen die Illusion von Unbesiegbarkeit bescherte, und wegen ihrer Bullen, in denen die Zeit, die Geschichte, das Alter geleugnet wurden, die den ungetrübten Glanz der Stadt besangen und dem Dreck und der Hinfälligkeit der Straßen trotzten, die auf Größe beharrten, auf Führertum, auf Unsterblichkeit, auf dem Status der Jahilier als den Hütern des Göttlichen… wegen dieser Schriften verziehen ihr die Leute ihre Promiskuität, sie drück ten ein Auge zu, wenn berichtet wurde, Hind sei an ihrem Geburtstag in Smaragden aufgewogen worden, sie nahmen Gerüchte über Orgien nicht zur Kenntnis, sie lachten, wenn sie vom Umfang ihrer Garderobe hörten, von den fünfhunderteinundachtzig goldgewirkten Nachtgewändern, von den vierhundertzwanzig Paar rubingeschmückten Pantoffeln. Die Bürger von Jahilia schleppten sich durch die immer gefährlicheren Straßen, in denen Morde für ein paar Münzen an der Tagesordnung waren, in denen alte Frauen vergewaltigt und rituell hingeschlachtet wurden, in denen Hinds private Polizeitruppe, das Mantikorps, die Aufstände der Hungernden brutal niederschlug, und obwohl ihre Augen sahen, ihre Bäuche und ihre Brieftasch en eine deutliche Sprache sprac hen, glaubten sie, was Hind ihnen einflüsterte: Herrsche, Jahilia, Zierde der Welt.
    Natürlich nicht alle. Zum Beispiel Baal. Der seinen Blick von öffentlichen Angelegenheiten abwandte und Gedichte über unerwiderte Liebe schrieb.
    Er kaute an einem weißen Rettich, als er bei seinem Haus anlangte und durch einen dunklen Torbogen in der zerfallenen Mauer trat. Er stand in einem kleinen, nach Urin stinkenden Hof voller Federn, Gemüseresten, Blut. Kein Zeichen menschlichen Lebens: nur Fliegen, Schatten, Angst. Man musste auf der Hut sein, heutzutage. Eine Sekte mörderischer Haschaschine machte die Stadt unsicher. Wohlhabenden Leuten wurde empfohlen, sich ihren Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu nähern und sich zu vergewissern, dass ihr Haus nicht beobachtet wurde; wenn die Luft rein war, liefen sie rasch zur Tür und verriegelten sie hinter sich, ehe irgendein lauernder Verbrecher sich hereindrängen konnte. Baal ließ solche Vorsichtsmaßnahmen außer Acht . Früher war er reich gewesen, aber das war schon ein Vierteljahrhundert her. Jetzt bestand kein Bedarf mehr an Satiren; die allgemeine Furcht vor Mahound hatte den Markt für Unverschämtheiten und Witziges ruiniert. Und mit dem Niedergang des Totenkults war das Interesse an Totengedichten und triumphalen

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