Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
Mirza Said hätte gutes Geld gewettet, dass dies die übelgelaunten Blicke eines jungen Mädchens waren, das nicht mehr sicher war, dass alles nach ihrer Nase lief.
    Dann verschwand sie.
    Sie ging während einer Nachmittagssiesta weg und kam erst nach eineinhalb Tagen zurück, zu einem Zeitpunkt, als die Hölle unter den. Pilgern ausgebrochen war; sie wusste , wie man die Gefühle des Publikums aufpeitscht, räumte Said ein; sie schlenderte zu ihnen über das staubumwölkte Land, und jetzt war ihr silbriges Haar mit Gold durchwirkt, und auch ihre Augenbrauen waren golden. Sie rief die Dörfler zu sich und teilte ihnen mit, dass der Erzengel verstimmt sei, weil die Einwohner von Titlipur mit Zweifeln erfüllt waren, nur weil eine Märtyrerin zum Paradies aufgefahren sei. Sie warnte, dass er ernstlich darüber nachdenke, sein Angebot, die Wasser zu teilen, zurückzuziehen, »so dass das einzige, was euch am Arabischen Meer erwartet, ein Salzwasserbad ist, und dann könnt ihr wieder zu euren verlassenen Kartoffelfeldern zurück, auf die nie mehr ein Tropfen Regen fallen wird.« Die Dörfler waren entsetzt. »Nein, das darf nicht sein«, flehten sie. »Bibiji, vergib uns.« Zum ersten Mal hatten sie den Namen der altvorderen Heiligen benutzt, um das Mädchen anzusprechen, das sie mit einem Absolutismus führte, welcher sie mittlerweile nicht weniger ängstigte als beeindruckte. Nach ihrer Rede blieben der Sarpanch und Mirza Said allein in ihrem Kombi.
    »Zweite Runde an den Erzengel«, dachte Mirza Said.
     
    Mit Anbruch der fünften Woche hatte sich die Gesundheit der meisten älteren Pilger rapide verschlechtert, die Mundvorräte gingen zur Neige, Wasser war kaum zu finden, und die Tränenkanäle der Kinder waren ausgetrocknet. Die Geier waren immer in der Nähe.
    Je weiter die Pilger die ländlichen Gebiete hinter sich ließen und in dichter bevölkerte Regionen kamen, desto schlimmer wurden die Schikanen. Die Fernbusse und Lastwagen weigerten sich häufig, den Fußgängern auszuweichen, welche schreiend und übereinanderstürzend zur Seite springen mussten . Radfahrer, sechsköpfige Familien auf Motorrollern, Kramladenbesitzer beschimpften sie wüst. »Verrückte!
    Dorftrottel! Moslems!« Oftmals mussten sie die ganze Nacht hindurch marschieren, weil die Behörden dieser oder jener Kleinstadt nicht zuließen, dass ein solches Gesocks auf ihren Gehwegen schlief. Weitere Todesfälle wurden unausweichlich.
    Dann brach der Ochse des Konvertiten Osman inmitten der Fahrräder und des Kameldungs einer namenlosen Kleinstadt zusammen. »Steh auf, Idiot«, brüllte er ihn ohnmächtig an.
    »Was soll das, mir hier vor fremden Obstständen wegzusterben?« Der Ochse nickte, zweimal für Ja, und verendete.
    Schmetterlinge bedeckten den Kadaver, nahmen die Farbe seines grauen Fells, der Papiertüten auf den Hörnern und Glöckchen an. Der untröstliche Osman rannte zu Aischa (die sich als Konzession gegenüber städtischer Prüderie einen schmutzigen Sari übergeworfen hatte, obwohl ihr nach wie vor Schmetterlingswolken wie Ruhm nachflatterten). »Kommen Ochsen in den Himmel?« fragte er mit kläglicher Stimme.
    »Ochsen haben keine Seele«, sagte sie kühl, »und um Seelen zu erretten, sind wir unterwegs.« Osman blickte sie an und erkannte, dass er sie nicht mehr liebte. »Aus dir ist ein Dämon geworden«, sagte er voll Abscheu zu ihr.
    »Ich bin nichts«, sagte Aischa. »Ich bin ein Bote.«
    »Dann sag mir, warum dein Gott so sehr darauf erpicht ist, die Unschuldigen zu vernichten«, tobte Osman. »Wovor fürchtet er sich? Hat er so wenig Vertrauen, dass er unseren Tod als Beweis unserer Liebe braucht?«
    Wie als Antwort auf eine solche Gotteslästerung, verfügte Aischa noch strengere Maßnahmen; sie bestand darauf, dass alle Pilger alle fünf Gebete sprachen, und bestimmte den Freitag zum Fastentag. Am Ende der sechsten Woche hatte sie die Marschierenden gezwungen, vier weitere Leichen da liegen zu lassen, wo sie umgefallen waren: zwei alte Männer, eine alte Frau und ein sechsjähriges Mädchen. Die Pilger marschierten weiter, wandten den Toten den Rücken zu; hinter ihnen aber sammelte Mirza Said Akhtar die Leichen ein und sorgte dafür, dass sie ein anständiges Begräbnis bekamen. Darin wurde er von dem Sarpanch Muhammad Din und dem ehemaligen Unberührbaren Osman unterstützt. An solchen Tagen fielen sie eine ganze Strecke hinter den Zug zurück, doch ein Mercedes-Benz Kombi braucht nicht lange, um über

Weitere Kostenlose Bücher