Die Satanischen Verse
einhundertvierzig Männer, Frauen und Kinder einzuholen, die matt zum Meer hin ziehen.
Die Zahl der Toten wuchs, und die Gruppe verunsicherter Pilger um den Mercedes vergrößerte sich von Nacht zu Nacht.
Mirza Said begann, ihnen Ges chichten zu erzählen. Er sprach von Lemmingen, und wie die Zauberin Circe Männer in Schweine verwandelte; er erzählte ihnen auch die Geschichte eines Flötenspielers, der die Kinder einer Stadt in eine Berghöhle lockte. Als er diese Geschichte in ihrer Sprache erzählt hatte, trug er Verse auf Englisch vor, damit sie der Musik der Dichtung lauschen konnten, auch wenn sie die Worte nicht verstanden. »Die Stadt Hameln liegt in Braunschweig«, hob er an. »In der Nähe der berühmten Stadt Hannover. Der Fluss Weser, tief und breit, umspült ihre Mauern an der Südseite…«
Jetzt sah er mit Befriedigung das Mädchen Aischa wütenden Blicks nahen, während die Schmetterlinge wie das Lagerfeuer hinter ihr leuchteten, und es schien, als gingen Flammen von ihrem Körper aus.
»Die, die den Versen des Teufels lauschen, gesprochen in der Sprache des Teufels«, rief sie, »werden am Ende selbst zum Teufel gehen.«
»Es gibt also die Wahl«, antwortete Mirza Said ihr, »zwischen dem Teufel und dem tiefen blauen Meer.«
Acht Wochen waren vergangen, und das Verhältnis zwischen Mirza Said und seiner Frau Mishal hatte sich so verschlechtert, dass sie kein Wort mehr miteinander sprachen. Mishal war inzwischen, ungeachtet ihres Krebses, der sie grau wie Leichenasche hatte werden lassen, Aischas oberste Platzhalterin und hingebungsvollste Jüngerin geworden. Die Zweifel anderer Marschierer hatten sie in ihrem Glauben nur bestärkt, und die Schuld an diesen Zweifeln gab sie unmissverständlich ihrem Mann.
»Auch ist keine Wärme mehr in dir«, hatte sie ihn in ihrem letzten Gespräch gerüffelt. »Ich habe Angst, mich dir zu nähern.«
»Keine Wärme?« brüllte er. »Wie kannst du so etwas sagen?
Kein Wärme? Für wen bin ich denn auf diese blödsinnige Pilgerfahrt gegangen? Um mich um wen zu kümmern? Weil ich wen liebe? Weil ich mir um wen so Sorgen mache, wegen wem so traurig bin, so voll Kummer bin? Keine Wärme? Bist du eine Fremde? Wie kannst du nur so etwas sagen?«
»Hör dich doch selber an«, sagte sie mit einer Stimme, die sich bereits in einer Art Rauchigkeit, einer Wolkigkeit verlor.
»Immer nur Wut. Kalte Wut, eisig, wie eine Festung.«
»Das ist keine Wut«, schnauzte er. »Das ist Sorge, Unglück, Erbärmlichkeit, Verletztheit, Schmerz. Wo hörst du da nur Wut?« »Ich höre sie«, sagte sie. »Jeder hört sie, meilenweit.«
»Komm mit mir«, flehte er sie an. »Ich bringe dich zu den besten Kliniken in Europa, Kanada, den USA. Hab Vertrauen in die westliche Technologie. Die können Wunder vollbringen.
Und für Apparaturen hast du doch auch immer etwas übrig gehabt.« »Ich pilgere nach Mekka«, sagte sie und wandte sich ab. »Du scheißblöde Kuh«, brüllte er ihren Rücken an. »Nur weil du sterben wirst, heißt das noch lange nicht, dass du die ganzen Leute da mitnehmen musst .« Sie aber ging von ihm, durch das Lager an der Straße, ohne sich umzublicken; und da er ihre Haltung bestätigt hatte, indem er die Beherrschung verloren und das Unaussprechliche ausgesprochen hatte, fiel er auf die Knie und weinte. Nach diesem Streit weigerte sich Mishal, weiterhin neben ihm zu schlafen. Sie und ihre Mutter entrollten ihr Bettzeug neben der in Schmetterlinge gehüllten Prophetin ihrer Pilgerreise nach Mekka.
Tagsüber arbeitete Mishal unermüdlich unter den Pilgern, richtete sie auf, bestärkte sie in ihrem Glauben, versammelte sie unter den Fittichen ihrer Sanftheit. Aischa zog sich mehr und mehr in Schweigen zurück, und Mishal Akhtar wurde praktisch die Führerin der Pilger. Eine Pilgerin aber gab es, die ihrer Macht entglitt: Mrs. Qureishi, ihre Mutter, die Frau des Direktors der Staatsbank.
Die Ankunft Mr. Qureishis, Mishals Vater, war durchaus ein Ereignis. Die Pilger machten gerade im Schatten einer Platanenzeile Rast, sammelten fleißig Unterholz und scheuerten Kochtöpfe, als die Fahrzeugkolonne in Sicht kam.
Sogleich sprang Mrs. Qureishi, die zwanzig Pfund leichter als zu Beginn des Marsches war, quietschend auf und versuchte verzweifelt, den Schmutz von ihren Kleidern abzubürsten und ihre Frisur zu ordnen. Mishal sah, wie ihre Mutter kraftlos mit einem zerlaufenen Lippenstift hantierte, und fragte: »Was plagt dich, Ma? Entspanne dich.«
Ihre
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