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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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worden waren. Als Khadija die Ruine sah, wusste sie nichts von ihrer Vergangenheit, von den Wandersleuten, die im Schlaf beraubt worden waren und so weiter, aber ihre Gegenwart verstand sie gut. »Ich muss dort hinein und mich hinlegen«, sagte sie zum Sarpanch, der protestierte: »Aber der Marsch!« - » Lasse gut sein«, sagte sie leise. »Den kannst du später einholen.«
    Sie legte sich in den Schutt der alten Ruine, bettete den Kopf auf einen glatten Stein, den der Sarpanch ihr holte. Der alte Mann weinte, aber das half nichts, und eine Minute später war sie tot. Er rannte dem Marsch nach und redete wütend auf Aischa ein. »Ich hätte nie auf dich hören sollen«, sagte er zu ihr. »Und jetzt hast du meine Frau getötet.«
    Der Marsch hielt an. Mirza Said Akhtar witterte Morgenluft und forderte lautstark, dass Khadija zu einem ordentlichen moslemischen Friedhof gebracht werden müsste . Doch Aischa widersprach. »Wir haben den Befehl des Erzengels, auf direktem Weg zum Meer zu gehen, ohne Rückzüge und Umwege.« Mirza Said appellierte an die Pilger. »Sie ist die geliebte Frau eures Sarpanch«, schrie er. »Wollt ihr sie etwa in ein Loch an der Straße kippen?«
    Als sich die Leute aus Titlipur einigten, dass Khadija sofort beerdigt werden sollte, traute Said seinen Ohren nicht. Er erkannte, dass ihre Entschlos senheit noch größer war, als er geargwöhnt hatte: sogar der trauernde Sarpanch fügte sich.
    Khadija wurde am Rand eines Brachfelds hinter der Ruine der Herberge aus der Vergangenheit begraben.
    Am nächsten Tag jedoch sah Mirza Said, dass der Sarpanch sich von dem Pilgerzug abgesondert hatte und etwas abseits von den anderen niedergeschlagen dahintigerte und an den Bougainvilleasträuchern schnupperte. Said sprang aus seinem Mercedes und rannte zu Aischa, um ihr eine weitere Szene zu machen. »Du Ungeheuer!« schrie er. »Herzloses Ungeheuer!
    Warum hast du die alte Frau hierher zum Sterben gebracht?«
    Sie ignorierte ihn, doch als er zu seinem Kombi zurückging, trat der Sarpanch zu ihm und sagte: »Wir waren arme Leute. Wir wussten , wir konnten nie hoffen, nach Mekka Sharif zu kommen, bis sie uns überredete. Sie überredete uns, und Sie sehen ja, was dabei herausgekommen ist.«
    Aischa, die Kahin, bat um ein Wort mit dem Sarpanch, doch spendete sie ihm keinen Trost. »Festige deinen Glauben«, schalt sie ihn. »Wer auf der großen Pilgerreise stirbt, kann sich eines Platzes im Paradies sicher sein. Deine Frau sitzt jetzt zwischen den Engeln und den Blumen; was gibt es da für dich zu bedauern?«
    An jenem Abend trat der Sarpanch Muhammad Din zu Mirza Said, als dieser an einem kleinen Lagerfeuer saß.
    »Entschuldigen Sie, Sethji«, sagte er, »aber wäre es möglich, dass ich, wie Sie es mir einmal angeboten haben, in Ihrem Automobil mitfahre?«
    Nicht bereit, das Projekt, für das seine Frau gestorben war, völlig aufzugeben, unfähig, den absoluten Glauben, den das Unternehmen erforderte, aufrechtzuhalten, bestieg Muhammad Din den Kombiwagen des Skeptizismus. »Mein erster Konvertit«, frohlockte Mirza Said.
     
    In der vierten Woche zeitigte der Abfall des Sarpanch Muhammad Din die ersten Auswirkungen. Er saß auf dem Rücksitz des Mercedes, als wäre er der Zamindar und Mirza Said der Chauffeur, und allmählich lehrten ihn die Lederpolsterung und die elektrisch betätigten Spiegelglasfenster Hochmut; die Nase reckte sich in die Luft, und er nahm die herablassende Miene eines Mannes an, der sehen kann, ohne gesehen zu werden. Auf dem Fahrersitz spürte Mirza Said wie sich ihm Augen und Nase mit dem Staub füllten, der durch das Loch drang, wo einmal die Windschutzscheibe gewesen war, doch ungeachtet solcher Unannehmlichkeiten fühlte er sich besser als zuvor. Stets versammelte sich jetzt am Ende eines Tages eine Pilgertraube um den Mercedes-Benz mit seinem schimmernden Stern, und Mirza Said versuchte, ihnen Vernunft beizubringen, während sie dem Sarpanch Muhammad Din dabei zusahen, wie er die spiegelverglasten Seitenfenster rauf und runter ließ, so dass sie abwechselnd seine und ihre eigenen Züge erblickten. Dass der Sarpanch im Mercedes saß, verlieh Mirza Saids Worten neue Autorität.
    Aischa unternahm nicht den Versuch, die Dörfler zurückzurufen, und bislang war ihr Vertrauen auch gerechtfertigt gewesen; es hatte keine weiteren Überläufer ins Lager der Ungläubigen gegeben. Doch Said sah, wie sie zahlreiche Blicke in seine Richtung warf, und ob sie nun Visionen hatte oder nicht,

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