Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
Vom Netzwerk:
hatte sie geächtet, und als ihr Vater sich von seiner Bank freinahm, um sie in der ersten Nacht des Pilgerzugs in einer Stadtmoschee zu besuchen, bedeutete sie ihm, er solle verduften. »Die Dinge haben sich so weit entwickelt«, verkündete sie, » dass nur die Reinen bei den Reinen sein können.« Als Mirza Said die Diktion Aischas der Prophetin aus dem Munde seiner Frau vernahm, verlor er das letzte Fünkchen Hoffnung.
    Es wurde Freitag, und Aischa willigte ein, dass der Pilgerzug einen Tag lang verweilte, um an den Freitagsgebeten teilzunehmen. Mirza Said, der fast alle arabischen Verse vergessen hatte, die er einmal hatte auswendig lernen müssen, und sich kaum mehr erinnern konnte, wann er, die Hände vor sich wie ein Buch, stehen, wann er die Knie beugen, wann die Stirn auf den Boden drücken sollte, schusselte mit wachsendem Selbsthass durch die Zeremonie. Am Ende der Gebete jedoch geschah etwas, das die Aischa-Hadsch abrupt unterbrach.
    Als die Pilger zusahen, wie die Gemeinde den Hof der Moschee verließ, wurde es vor dem Haupttor unruhig. Mirza Said ging nachschauen, was los war. »Was soll der Lärm?«
    fragte er, während er sich durch die Menge auf den Stufen der Moschee zwängte; dann sah er den Korb auf der untersten Stufe stehen. Und hörte aus dem Korb das Weinen des Babys.
    Der Findling war vielleicht zwei Wochen alt, offensichtlich unehelich, und ebenso klar war, dass seine Lebensaussichten begrenzt waren. Die Menge befand sich in einer zweifelnden, verwirrten Stimmung. Dann erschien der Imam der Moschee oben auf der Treppe, und bei ihm war Aischa die Seherin, deren Ruhm die ganze Stadt durchdrungen hatte.
    Die Menge teilte sich wie das Meer, und Aischa und der Imam schritten zum Korb hinunter. Der Imam untersuchte das Baby kurz, richtete sich auf und wandte sich der Menge zu.
    »Dieses Kind wurde in teuflischer Ruchlosigkeit gezeugt«, sagte er. »Es ist das Kind des Teufels.« Er war ein junger Mann.
    Die Stimmung der Menge schwang in Wut um. Mirza Said rief laut: »Du, Aischa, Kahin. Was sagst du?«
    »Von uns wird alles verlangt werden«, antwortete sie.
    Die Menge, die keine deutlichere Einladung brauchte, steinigte das Kind zu Tode.
     
    Daraufhin weigerten sich die Aischa-Pilger weiterzugehen.
    Der Tod des Findlings hatte unter den müden Dörflern, von denen keiner einen Stein aufgehoben oder geworfen hatte, eine Atmosphäre der Meuterei geschaffen. Mishal, mittlerweile schneeweiß geworden, war durch ihre Krankheit zu geschwächt, um die Dörfler zusammenzutreiben. Aischa verweigerte wie immer jede Diskussion. »Wenn ihr Gott den Rücken kehrt«, warnte sie die Dörfler, »braucht ihr euch nicht zu wundern, wenn Gott dasselbe mit euch macht.«
    Die Pilger hockten in einer Gruppe zusammen in einer Ecke der großen Moschee, die außen limonengrün und innen hellblau gestrichen war und, wenn nötig, von vielfarbigen Neon-
    »Röhrenleuchten« erhellt werden konnte. Auf Aischas Warnung hin kehrten sie ihr den Rücken zu und drängten sich dicht aneinander, obwohl es ziemlich warm und schwül war. Mirza Said erkannte seine Chance und beschloss , Aischa einmal mehr direkt anzugehen. »Sag«, fragte er zuckersüß, »wie genau gibt dir der Engel all diese Information? Nie sagst du uns seine genauen Worte, immer nur deine Interpretation. Warum diese Indirektheit? Warum zitierst du ihn nicht einfach?«
    »Er spricht zu mir«, entgegnete Aischa, »in klaren und einprägsamen Weisen.«
    Mirza Said voll der bitteren Energie seines Verlangens nach ihr und voll des Schmerzes über die Entfremdung von seiner sterbenden Frau und voll der Erinnerungen an die Mühsal des Marsches, roch in ihrer Knappheit die Schwäche, nach der er gesucht hatte. »Sei doch bitte etwas genauer«, beharrte er.
    »Oder warum sollte sonst jemand daran glauben? Was sind das für Weisen?«
    »Der Erzengel«, räumte sie in, »singt zu mir in den Melodien bekannter Schlager.«
    Mirza Said klatschte hocherfreut in die Hände und begann, das laute, widerhallende Lachen der Rache zu lachen, und Osman der Ochsen-Junge fiel ein, schlug auf sein Dholki und stolzierte zwischen den dahockenden Dörflern umher, sang die neuesten Filmi Ganas und machte Nautch-Mädchenaugen. »Ho ji!« tirilierte er. »Das ist Gibrils Stil, ho ji, ho ji!«
    Und einer nach dem anderen erhob sich Pilger auf Pilger, reihte sich in den Tanz des kreisenden Trommlers ein und tanzte seine Desillusionierung und seinen Abscheu in den Hof der Moschee hinaus, bis der

Weitere Kostenlose Bücher