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Die Satanischen Verse

Die Satanischen Verse

Titel: Die Satanischen Verse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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angesehen. Im Original verdächtigt ein Ehemann seine Frau der Untreue und stellt ihr eine Falle. Er gibt vor, auf Geschäftsreise zu gehen, kehrt jedoch wenige Stunden später zurück, um ihr nachzuspionieren. Er kniet sich hin, um durch das Schlüsselloch zu spähen. Da spürt er jemandes Anwesenheit in seinem Rücken, dreht sich um, ohne aufzustehen, und da steht sie, voll Abscheu und Ekel auf ihn hinunterblickend. Dieses Tableau, er kniend, sie hinunterblickend, ist der Sartresche Archetyp. Aber in der indischen Fassung spürte der kniende Ehemann nicht, dass jemand hinter ihm stand; wurde von der Frau überrascht; stand auf, um ihr auf gleicher Stufe gegenüberzutreten; tobte und schrie; bis sie weinte, da umarmte er sie, und sie versöhnten sich.
    »Du sagst, ich soll mich schämen«, sagte Chamcha bitter zu Zeenat. »Du, die du keine Scham kennst. Tatsächlich könnte das sogar ein nationaler Charakterzug sein. Langsam kommt mir der Verdacht, dass es den Indern an der moralischen Differenziertheit mangelt, die zur Entwicklung eines echten Sinns für das Tragische notwendig ist, und dass sie deshalb nicht verstehen können, was Scham wirklich ist.«
    Zeenat Vakil trank ihren Whisky aus. »Okay, mehr brauchst du nicht zu sagen.« Sie hob die Hände. »Ich gebe auf. Ich gehe. Mr. Saladin Chamcha. Ich dachte, du hättest noch einen Funken Leben in dir, einen winzig kleinen, aber immerhin noch nicht ganz erloschenen. Ich habe mich getäuscht. Wie sich herausstellt, warst du die ganze Zeit über schon mausetot.«
    Und noch etwas, bevor sie mit milchigen Augen zur Tür hinausging. » Lasse die Leute n icht zu nahe an dich heran, Mr. Saladin. Wenn man die Leute durch seinen Panzer lässt , dann gehen die Schweinehunde hin und stoßen dir ein Messer ins Herz.«
    Danach hatte es keinen Grund mehr gegeben zu bleiben.
    Das Flugzeug startete und flog eine Kurve über die Stadt.
    Irgendwo unter ihm verkleidete sein Vater eine Dienerin als seine Frau. Die neue Verkehrsführung sorgte für eine gründliche Verstopfung des Stadtzentrums. Politiker versuchten, Karriere zu machen, indem sie auf Padyatras gingen, Wallfahrten zu Fuß quer durch das Land. Es gab Graffiti, die lauteten: Guter Rat für Politikos. Die einzig sinnvolle Richtung: Padyatra in die Hölle. Oder manchmal: nach Assam.
    Schauspieler wurden in die Politik verwickelt: MGR, N.T. Ra-ma Rao, Bachchan. Durgha Khote beschwerte sich, eine Schauspielergewerkschaft sei eine »rote Front«. Saladin Chamcha, unterwegs mit Flug 420, schloss die Augen; und spürte mit tiefer Erleichterung die verräterischen Verschiebungen und Verfestigungen in seiner Kehle, die darauf hindeuteten, dass seine Stimme von sich aus begonnen hatte, zu ihrem verlässlichen englischen Ich zurückzukehren.
    Die erste Beunruhigung, die Mr. Chamcha auf diesem Flug erfuhr, war, dass er unter den Passagieren die Frau seiner Träume ausmachte.

4

    Die Traum-Frau war kleiner und weniger anmutig als die wirkliche gewesen, aber in dem Augenblick, in dem er sie gelassen den Gang der Bostan auf und ab spazieren sah, fiel Chamcha der Alptraum ein. Nachdem Zeenat Vakil gegangen war, war er in einen gequälten Schlaf gesunken und eine Vorahnung hatte ihn heimgesucht: das Bild einer Terroristin mit einer nahezu unhörbar leisen Stimme, die mit kanadischem Akzent sprach und deren Tiefe und Wohllaut sie klingen ließen wie ein weit, weit entferntes Meer. Die Traum-Frau war mit Sprengstoff so beladen gewesen, dass sie eher die Bombe denn die Bombenwerfe rin war; die Frau, die den Gang entlangspazierte, trug ein Baby, das lautlos zu schlafen schien, ein Baby, das so geschickt eingewickelt war und das sie so fest an die Brust drückte, dass Chamcha nicht einmal eine Locke neugeborenen Haars sehen konnte. Unter dem Einfluss des erinnerten Traums stellte er sich vor, das Baby sei in Wirklichkeit ein Bündel Dynamitstäbe oder eine Art Zeitbombe, und er war im Begriff aufzuschreien, als er sich besann und streng zur Ordnung rief. Das war genau die Art von abergläubischem Humbug, die er gerade hinter sich ließ. Er war ein gepflegter Mann in zugeknöpftem Anzug, unterwegs nach London, zu einem geregelten, zufriedenen Leben. Er lebte in der wirklichen Welt.
    Er reiste allein, mied die Gesellschaft der anderen Mitglieder der Prospero-Truppe, die verstreut in der Economy Class saßen, Mickey-Maus— TShirts anhatten und versuchten, den Hals zu verrenken wie Natyam-Tänzerinnen, und grotesk aussahen in Benarsi-Saris und

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