Die Scanner
neidisch war.
So viele hatten sich noch nie irgendeine Sekunde aus meinem Leben angeschaut. Selbst meinen Unfall nicht. Unser Nachbar hatte mich vor zwei Jahren mit seinem neuen E-Roller angefahren. Die Sequenz des Aufpralls interessierte nur 450 Leute. Meine OP schauten sich immerhin 2320 an. Aber das war die Mobril meines Arztes.
Für den Vormittag hatten Jojo und Melli jedenfalls ein Krisengespräch anberaumt. Im Anschluss wollten sie sich zusammen einen Animator-Film anschauen. Jeder in seiner Wohnung – aber immerhin zeitgleich. Quasi die geplante Aktion zur Versöhnung.
Kurzum: Jojo war beschäftigt, und ich konnte mich in aller Ruhe in der Rikscha durch diesen Irrgarten schaukeln lassen.
Mit nassem Hemd und den drei durchgeschüttelten Schokoladentorten stand ich vor dem Seniorenlager Ost-Hafen.
Der Name täuschte. Es handelte sich nicht um eine Altenunterkunft, sondern um ein kleines Café. Plastikmüll brannte in einem verglasten Ofen. Sessel aus einem anderen Jahrhundert standen kreisförmig im Raum. Auf einem schlief ein Mitte 40-Jähriger, vermutlich die Bedienung. Sonst war kein Mensch da.
Angebot des Tages: Kuchen mit Zitronenaroma stand auf einer Tafel, an der eine Schnur mit Kreide hing. Wie ich das Wort Aroma hasste. Steak-Aroma statt Steak. Pizza-Aroma statt Pizza. Tomatensalat-Aroma statt Tomatensalat. Das Essen war immer die gleiche Pampe, die mit Aroma und viel Phantasie so schmecken sollte wie das Original.
Alles ohne Aroma kostete ein kleines Vermögen – wie die Schokoladentorten im Sunshine Café. Zumindest blieb mir diese Abbuchung laut Taxifahrer erspart.
Ich wischte mit dem nassen Hemdsärmel das Angebot des Tages vom Seniorenlager Ost-Hafen weg. Zum ersten Mal in meinem Leben benutzte ich Kreide. Handschrift hatte ich in Altwissen erlernt.
Meine alte Professorin hatte darauf bestanden und von einer wichtigen Erfahrung gesprochen. Wir hatten gegrinst, ihr aber die Freude gemacht. Und fleißig mitgekritzelt. Wir übten mit Kugelschreibern und einmal mit Bleistift. Aber nie mit so antiquiertem Material wie Kreide.
So erfuhr ich erst im Seniorenlager Ost-Hafen eine wichtige Sache. Mit Kreide lässt sich auf nassem Untergrund nicht besonders gut schreiben. Heute Schokoladentorten , schrieb ich, mit Kirsche und Karamell. Ohne Aroma!!!
Ich packte die zerdrückten Torten aus und stellte sie auf den kleinen Tisch vor der Bedienung. Inzwischen schnarchte der Kellner. Ich folgte der Beschilderung zu dem Ort, an dem ich Fanni vermutete.
Eine Luke an der Decke öffnete sich. Ich stellte mich auf den Klodeckel und erreichte die ersten Sprossen einer Leiter. Oben angekommen, streckte mir ein alter Mann mit kurzen grauen Haaren und Vollbart seine Hand entgegen.
»Ich heiße Thomas. Wir hatten letztes Mal schon das Vergnügen«, sagte er.
Er konnte damit nur den Keller neben dem Baby Q meinen. Die Monolog-Stunde. Den Unterricht. Die Propaganda-Runde. Also ist es der Schriftsteller, dachte ich. Er vertraute mir offenbar. Er zeigte sich mir zumindest. Sehr unangenehm. Ich wollte schließlich nicht den Mitgliedsausweis der Büchergilde abholen.
Wir liefen einen langen Korridor entlang. Er zweigte mehrfach ab. Wir durchschritten immer wieder Metalltüren. Mir schien, als würden wir weit hinter den Außenmauern von Häuserblock zu Häuserblock wandern. Unser schmaler Weg hatte ein leichtes Gefälle. Wir versanken irgendwo im Innersten der C-Zone.
Thomas schritt mit einer Taschenlampe voraus. Wir blieben vor einer Tür stehen, für die der Schriftsteller keinen Schlüssel hatte. Und per Fingerabdruck funktionierte das rostige Altmetall bestimmt nicht.
Thomas drückte mehrmals auf einen Schalter unter dem Griff. Es klingelte. Laaaaaang – kurz – kurz – kurz. Er machte eine Pause. Und setzte mit Laaaaaang – laaaaaang – kurz fort. Wie bei den alten Agentenfilmen, die auf dem Klassik-Kanal liefen.
Die Tür öffnete sich. Wir traten in einen fensterlosen Raum mit einem schweren Holztisch in der Mitte und zwei langen Bänken an den Seiten.
»Willkommen! Das war früher das Lager«, sagte Thomas.
»Und was lagerte man hier?«, fragte ich.
Wahrscheinlich die Technik, die Arne Bergmanns Organisation für den E-Anschlag benötigt hatte, dachte ich.
»Das wirst du bald erfahren.«
Wie ich dieses Das-wirst-du-bald-erfahren-Getue hasste.
Thomas brachte mir eine Tasse heißes Wasser und löste eine Kaffee-Tablette darin auf. Ich nippte und sah ihn fragend an.
»Entkoffeiniert«,
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