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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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Zimmer nicht auskühlten. Klavdia ließ deswegen die Watte auch über den Sommer drin und ihr eigenes Fenster zu, aber ich wollte einfach frische Luft.
    Das Zimmer füllte sich mit dem Rauschen der Motoren,den Stimmen, dem Geklimper der Trolleybusse. Ich stellte mich ans Fenster und atmete ein. Ja, das hier war wirklich Frühling. Es gab Stände mit Eis und Blumen. Die schweren Wintermäntel und die braunen Pelze waren verschwunden. Die Menschen trugen leichte Jacken und gewagte Farben. Die Schritte waren beschwingter. Ich sah wieder Haare. Viele hatten ihre Mützen zu Hause gelassen.
    Unter einer Laterne am Straßenrand stand ein Mann, der auch keine Mütze anhatte. Von oben konnte ich sehr gut seine Glatze sehen, in der sich die Sonne spiegelte.
    Es war Kalganow, mein Mann.
    Er stand unter der Laterne und sah direkt zu mir hoch. Ich versteckte mich hinter dem Vorhang. Ich fühlte mich überrumpelt.
    Sein helles, rundes Gesicht blieb zu mir aufgerichtet: Das konnte ich durch den Stoff hindurch sehen. Was wollte er? Warum war er nicht bei seiner Lehrerin für Russisch und Literatur? Hatte er die Schlüssel zu seiner neuen Wohnung verloren? Sich verlaufen? Er hatte doch nicht etwa vor, jetzt schon zu mir zurückzukehren? Leichte Panik überfiel mich.
    Das hatte Kalganow schon immer gut gekonnt: mir die Laune verderben. Er konnte jeden noch so prächtigen Augenblick mit seiner Anwesenheit verdüstern. Der Frühlingstag begann zu verblassen. Der Wind fühlte sich nicht mehr zärtlich an, sondern heimtückisch. Ich schloss das Fenster und zog den Vorhang davor.
    Ich setzte mich in meinen Sessel und nahm meine Stricknadeln in die Hand. Ich strickte einen Schal für Aminat. Natürlich nicht einfach irgendeinen.Ich strickte ein Muster aus kleinen Kätzchen. Eine so einfache Sache wie einen Schal so einzigartig wie möglich zu machen – ich hatte Sinn für so etwas. Ich konzentrierte mich auf das Zählen der Maschen.
    Ich zwang mich, den Schal fertigzustricken. Erst anderthalb Stunden später sah ich auf die Straße. Kalganow war weg. Ich atmete erleichtert aus.

[Menü]
    Perfekte Ehefrau
    In dieser Nacht träumte ich zum ersten Mal von Kalganow. Das war merkwürdig. Im Traum war mein Mann noch jung. Er sah aus wie bei unserem ersten Treffen. Ich war sechzehn, und er war ein Freund meines Bruders. Fünf Jahre älter als ich, ein erwachsener Mann. Mein Bruder war drei Jahre später aus dem 12. Stock eines Hochhauses gesprungen, er war schon immer ein seltsamer Mensch gewesen.
    Boris, dachte ich. Boris, das war der Vorname meines Mannes. Ich habe ihn aber nie so genannt. Ich hatte meine eigenen Namen für ihn. Ich erinnerte mich daran, wie ich ihm damals die Tür geöffnet hatte, weil er meinen Bruder besuchen wollte. Ich war gerade aus dem Kinderheim zu meinem Bruder gezogen, er war mein einziger naher Angehöriger und mit Anfang zwanzig schon erwachsen und verantwortungsbewusst. Ich erinnerte mich daran, wie Kalganow so höflich »Hallo, Kleine« gesagt hatte. Wie verblüfft ich war, dass ein Mann so schön sein kann. Ja, mein Mann war einmal schön gewesen. Ich hatte es ganz vergessen. Er hatte mir sofort so gut gefallen, dass ich gedacht hatte: Wenn ich so einen heirate, dann werden die Kinder hübsch. Pustekuchen.
    Wir haben kurz nach meinem 18. Geburtstag geheiratet. Dazwischen hatte er eine Freundin gehabt, sie war weder schön noch klug, aber ich war trotzdem krank vor Eifersucht. Ich hatte mich heimlich im Bad hingekniet und Gott um Beistand gebeten. Eigentlich wollte ich nur, dass mein künftiger Mann nicht auf die Idee kam, diese andere zu heiraten, bevor ich alt genug wurde. Aber Gott übertrieb mal wieder ein wenig. Die Freundin meines künftigen Mannes starb schnell an Tuberkulose.
    Für Kalganow gab es keinen Gott. Er war bei den Komsomolzen, auch das fand ich gut. Ich begrüßte sein politisches Engagement, mir war klar, welche Perspektiven das eröffnete.
    Er war, unverkennbar auf den ersten Blick, Tatare. Aber er wollte nie darüber reden. Er sagte immer, das sei alles willkürlich, die Unterteilung in Russen und Ukrainer, Juden und Zigeuner, Usbeken, Baschkiren, Aserbaidschaner, Armenier, Tschetschenen, Moldawier … und Tataren. Er war in Kasan geboren, aber es war ihm nicht gut bekommen. Er hatte einen Traum: alle Menschen zusammenmischen, von ihren Elternhäusern fernhalten, von dem, was man als kulturelle Wurzeln bezeichnet, befreien wie von lästigem Ballast. Er war der Meinung, dass alle diese

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