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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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runter!«
    Ich konnte mich vor Glück und Erleichterung kaum rühren. Corsin nahm mir die Skistöcke aus der Hand und steckte die Enden in seinen Hosenbund, stellte sich breitbeinig hin und reichte mir seine Hände nach hinten. Ich rutschte mit meinen Skiern in seinen Pflug hinein, meine Beine entkräftet und zitternd. Und dann sauste der Wind in meinen Ohren, während ich hinter Corsins breitem Rücken nur gerade so viel bremste, dass ich nicht mit dem Gesicht auf seiner roten Jacke aufschlug. Ich hatte das Gefühl, es dauerte eine Stunde oder zwei, und als wir unten auf dem Parkplatz ankamen, tropfte das Blut aus meiner durchgebissenen Lippe in den Schnee. Corsin lächelte, er war nicht einmal verschwitzt.
    »Mutige Frau«, sagte er. »Nicht fahren können, aber allein auf den Berg.«
    »Woher hast du gewusst, wo ich bin?« fragte ich, und er legte seine Hand auf die linke Brusttasche seiner Jacke und sagte: »Gespürt.«
    Ich kam wie eine Siegerin zurück aus den Bergen, mit einer sanften Bräune und der Körperhaltung einer Königin auf Skiern. Ein Wermutstropfen war, dass ich das Gleiche von Aminat nicht behaupten konnte.
    Corsin schickte mir Postkarten, die kleine leuchtende Häuschen in den Bergen zeigten. Bei der Gelegenheit erfuhr ich, dass das, was ich bei ihm für ein komisches Deutsch gehalten hatte, in Wirklichkeit eine ganz andere Sprache war. Er und sein ganzes Dorf sprachen die Sprache der alten Römer, und in dieser Sprache schrieb er auch seine Postkarten.
    Er schrieb mir »Gronda buna a mia amur e splendur al firmament«, »vaiel tei fetg bugen« und »far lamur in cun lauter, leinsa?«. Ich konnte nicht einmal raten, was es bedeutete.
    Corsin war in seinem Land eine Art Tatare, er hatte andere Wurzeln, andere Gerichte, eine andere Sprache und vor allem ein viel schöneres Aussehen als der Rest der Bevölkerung. Aber während bei uns kein wohlerzogener Tatare auf die Idee gekommen wäre, Wörter zu verschicken, die andere nicht verstanden, fand Corsin offenbar gar nichts dabei. Ich hatte ein paarmal versucht, mich mit ihm darüber zu unterhalten. Irgendwann begriff ich: Dass er so gern darüber sprach, dass er anders als die normalen Schweizer war, war kein Mangel an Erziehung. Es war einfach eine Sache, die ganz tief in seinem Kopf saß und da nicht mehr auszutreiben war. Er hatte eben keine sowjetische Erziehung genossen, sondern eine etwas primitivere. Seine Neigung, mit seinen Wurzeln anzugeben, erinnerte mich an die Art kleiner Kinder, ihr Röckchen hochzuheben, damit alle die neue Unterhose sehen konnten.
    Einmal schickte mir Corsin eine Postkarte auf Deutsch: dass ermich vermisse und nächsten Dienstag besuchen komme, mit seinem Auto direkt aus den Bergen, fünf Stunden Fahrt.
    Sein Besuch brachte mich in die Bredouille. Zum Glück war eine meiner Kundinnen gerade im Urlaub. Ich führte Corsin in ihre Altbauwohnung, in der Hoffnung, von den Nachbarn nicht gesehen zu werden. Mir fiel verspätet auf, dass ein Mann wie Corsin eine Frau jenseits der Skipiste eher lächerlich machte als schmückte. Ich fand ihn zwar sehr muskulös, vielleicht ein bisschen zu dünn, doch er schaute um sich wie ein verschrecktes Kaninchen, und unter der Decke bestätigte sich mein Verdacht: Er kannte sich nur im Gebirge aus.
    Ich überprüfte es noch weitere drei Male, bis ich zu dem Schluss kam, dass ich zu beschäftigt war für jemanden, dem man alles erklären musste. Ich brachte Corsin zu seinem Auto. Zu Hause warf ich seine Postkarten ins Altpapier.

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    Die besten Töchter
    Ich war zufrieden mit mir. Ich arbeitete viel, denn im Sommer wollte ich mit Aminat ans Meer, ohne Dieter, dafür vielleicht mit Sulfia – sie sollte auch mal ein bisschen Sonne sehen. Dann klingelte in einer Nacht das Telefon, und Kalganow war dran. Jener Kalganow, den Sulfia nach seinem Schlaganfall schon das vierte Jahr pflegte. Ich erkannte Kalganow nicht an der Stimme – denn sie war anders, als ich sie in Erinnerung hatte, und es war mir auch völlig egal, wem die Stimme gehörte, die da sagte, Sulfia sei tot.
    »Was?« fragte ich. »Wozu?«
    Ich hielt es für einen geschmacklosen Scherz und legte auf.
    Es klingelte erneut. Ich sah auf den Hörer, die lange Nummer mit der 007-Vorwahl auf dem Display, und bewegte mich nicht. Es klingelte und klingelte, bis Aminat aus ihrem Zimmer auftauchte, verschlafen, sie sah die Nummer und griff nach dem Hörer.
    »Mama?« rief sie, sie hatte gerade den Skiurlaub verarbeitet und bekam

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