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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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sich zusammen, verfingen sich ineinander, zogen andere an: Es war eine unvorstellbare Enge. Es drückte von innen gegen die Schläfen, drückte meine Augen und Zunge regelrecht hinaus. Ich hielt meinen Kopf von außen mit den Händen zusammen. Sulfia, dachte ich plötzlich. Sulfia wusste immer, wann es einem schlecht ging. Sie spürte, wenn man sie brauchte. Man musste ihr nichts sagen: Sie wusste, wo es wehtat. Sie spürte es über Tausende von Kilometern hinweg. Und sie wusste, was sie dagegen tun konnte. Sie konnte den Schmerz verjagen. Sulfia, dachte ich, war eine Zauberin gewesen.
    »Sulfia«, flüsterte ich mit steifen Lippen, die mir nicht gehorchten. »Sulfia!«
    In meinen Augen pochte und brannte es. Ich fürchtete, dass sie platzen könnten, so stark war der Druck. Ich schirmte sie mit der Hand ab.
    Dann ließ der Schmerz nach. So langsam und unauffällig, dass ich es erst merkte, als ich die Augen wieder öffnen konnte, noch voller Sorge, dass sie gleich aus den Höhlen springen würden. Meine verlängerten, dichten Wimpern, die ich noch nicht abgeschminkt hatte, kitzelten beim Öffnen meine Handflächen. Ich nahm die Hände weg und setzte mich auf. Das Zimmer war dunkel, eine Laterne schien ins Fenster hinein. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos schickten leuchtende Flecken ins Zimmer und spielten mit den Mustern der Decke.
    »Sulfia«, sagte ich. »Setz dich gerade.«
    Sulfia saß neben mir, aber nicht die Sulfia, die eben im Ofen des Krematoriums verschwunden war. Es war eine Sulfia, die ich bei unserer letzten Begegnung gesehen hatte, erschöpft, aber lächelnd, mit müden, aufmerksamenAugen. So normal, dass ich schon wieder begann, mich über sie aufzuregen. Doch dann bremste ich mich und hielt mich mit den Händen am Bett fest, um nicht der Versuchung nachzugeben, meine Hand nach einem Gespenst auszustrecken.
    »Sulfia«, sagte ich. »Ich …«
    Sulfia sah mich an und lächelte. Sie war zu müde, um zu sprechen, sie arbeitete immer so viel. Sie legte den Finger an ihre Lippen. Und dann lag ich wieder im Bett, voll angekleidet, nicht abgeschminkt – Sulfia meinte, nach einem Tag wie heute könnte ich mir so etwas erlauben –, nur der zweite Schuh fiel neben den ersten auf den Boden. Die leichte, nach Sulfia duftende Decke verbarg mich vor der Einsamkeit und Leere dieses Zimmers und hielt den Kummer von mir fern.
    »Bleib bei mir«, bat ich, bevor ich einschlief.
    Sulfia tat, worum ich sie gebeten hatte. Das tat sie immer. Ich konnte sie nicht zwingen, aber worum ich sie einfach nur bat , das blieb nie unerfüllt. Sulfia ließ niemanden in Not zurück, das war nicht ihre Art.
    Als ich aufwachte, schmerzte mein ganzer Körper. Die künstlichen Wimpern hatten sich gelöst und lagen auf dem Kissen, mein Gesicht war mit Krusten aus getrockneter Schminke und Tränen überzogen. Die schwarzen Kleider, die meine Figur so vorteilhaft umspielten, rochen nicht gut.
    Ich betrat die Küche. Kalganow und seine Lehrerin waren dort. Sie saß auf dem Hocker, und er stand am Herd und rührte in einem Topf. Ich empfand sie plötzlich als eine Einheit, wie zwei Fettaugen auf der Suppe, die zu einem verschmolzen. Später würde ich ihnen noch sagen, was ich von ihnen hielt.
    Ich ging ins Bad und brachte mich in Ordnung, ließ kaltes Wasser über mein Haar laufen, damit es glänzte, reinigte mein Gesicht und erfrischte es ebenfalls mit kühlem Wasser. Ich wickelte mich in einen Bademantel, der an der Tür hing und von dem kein Geruch ausging – mir war klar, dass er Sulfia gehört hatte und damit jetzt mir.
    Kalganow stellte einen Teller mit Grießbrei vor mich. Ich probierte: Der Brei war klumpig, aber ich sagte nichts. Ich betrachtete die Küchenfliesen, jede mit Sulfias Gesicht verziert, mit einem wundervollen Porträt, so echt, als hätte man eine Fotografie eingearbeitet. Ich betastete sie. Sie waren warm und glatt.
    »Wie habt ihr das gemacht?« fragte ich Kalganow.
    »Was?«
    »Dieses … Muster auf den Fliesen.«
    »Welches?«
    »Dieses da«, ich deutete mit dem Finger auf eines von Sulfias Gesichtern.
    Kalganow blinzelte angestrengt in die Richtung, in die ich zeigte.
    »Sie sind weiß«, sagte er.
    Wir mussten einige Dinge regeln. Materielle Dinge. Sulfias Sachen – sie hatte nicht viele gehabt. Sie hatte zwei Regalfächer im Schrank zu ihrer Nutzung. Sie hatte keinen Besitz – die vermietete Wohnung hatte sie auf Kalganows Namen umschreiben lassen.
    »Ihr habt ihr alles weggenommen!« schrie

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