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Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche

Titel: Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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wieder etwas bessere Laune, und ich sah zu, wie sie den Hörer ans Ohr drückte, wie sich ihr Gesicht veränderte. Ich starrte sie voller Hoffnung an: Sie sollte mir gleich sagen, dass nichts von dem, was ich zuerst gehört hatte, wahr war. Aber daran, wie Aminats Gesicht in einem denkbar ungeeigneten Ausdruck erstarrte, in einem schiefen Lächeln nämlich, daran erkannte ich, dass meine Auffassungsgabe mich nicht getäuscht hatte.
    Ich flog nach Russland, und Aminat blieb bei Dieter.
    Ich musste mich um die Trauerfeier kümmern, wer konnte das besser als ich. Als ich dort ankam, traf ich Menschen an, aufgelöst wie verwaiste Kinder. Das größte Kind war Kalganow, der, ich sagte es ihm sofort, Sulfia auf dem Gewissen hatte. Nur seinetwegen war sie meiner Aufsicht und Fürsorge ferngeblieben. Jetzt stand Kalganow unter Schock, was bedeutete, dass es ihm plötzlich besser ging. Er konnte aufstehen und wieder sprechen – seine ersten zusammenhängenden Worte waren die Todesnachricht am Telefon gewesen.
    Seine Lehrerin für Russisch und Literatur, diese alte, ganz aus der Form geratene Person, ging mir mit ihrem permanenten Schluchzen auf die Nerven. Ich sah sie zum erstenMal und hatte das Gefühl, sie würde mich dunkel an irgendjemanden erinnern. Zwischendurch griff sie sich ans Herz, bis ich ihr sagte, sie soll sich in ihrem Zimmer einschließen und andere Menschen nicht behindern.
    »Solche wie du leben doch ewig«, sagte ich. »Dafür bringen sie die besten Töchter anderer Leute um.«
    In meinem alten Land hatte sich vieles verändert. Es trug einen neuen Namen. Auch meine Stadt hieß inzwischen anders. Alles war sehr dreckig, und jeder verkaufte irgendetwas. Buden und Kioske drängten sich nebeneinander, auf Pappkisten wurden Lebensmittel, Kleider, Bücher und leere Coca-Cola-Dosen verkauft.
    Die Menschen waren schlimm angezogen und hatten Elend im Blick. Alle Mädchen sahen wie Nutten aus, und offenbar waren die meisten auch welche. Alte Frauen zählten mit zitternden Händen Münzen ab. Öffentliche Toiletten konnten von einer anständigen Frau nicht betreten werden.
    Kalganows Verwandtschaft auf dem Dorf bei Kasan meldete sich mit dem Vorschlag, Sulfia nach tatarischer Tradition zu begraben, in ein Tuch gehüllt, ohne Sarg. Ich reagierte nicht auf diese Schnapsideen, ich hatte auch so genug zu tun. Sie versuchten es bei Kalganow, der »Röschen weiß alles besser« sagte. Dann gaben sie es auf und trugen während der Trauerfeier vorwurfsvolle Mienen zur Schau.
    Im Sarg hatte Sulfia ein weißes Kleid und weiße Seidenschuhe an. Ich schmückte ihre Stirn und ihr Kissen mit Blumen und wies den Bestatter an, sich beim Schminken Mühe zu geben. Es waren sehr viele Leute gekommen, mir war neu, dass so viele Sulfia gekannt hatten. Ihre alten Mitschüler, Kollegen, Nachbarn, es warenHunderte von Menschen, und jeder sollte sehen, was für eine schöne Frau sie war: Die langen schwarzen Haare, das weiße Gesicht, ebenmäßig wie bei einer Puppe, die feine, geschwungene Nase, die schwarzen Wimpern, die lange Schatten auf die Wangen warfen. Sie hatte dann doch ziemlich viel von mir.
    Es stellte sich heraus, dass Sulfia kein eigenes Zimmer gehabt hatte. Sie hatte ein Feldbett bei Kalganow und seiner Frau, im Wohnzimmer, abgetrennt durch einen Paravent. Kalganow und seine Lehrerin hatten ein Schlafzimmer mit einem Doppelbett, das sie zu einem doppelten Krankenlager umgebaut hatten. Links und rechts standen Nachttischchen voller Medikamente.
    Nach der Trauerfeier legte ich mich auf Sulfias Feldbett, es war durchgelegen, die Decke war zerschlissen. Ich biss die Zähne zusammen. Die Blutsauger hinter der Wand unterhielten sich leise, dazwischen waren laute Schluchzer zu hören. Ich zog meinen Schuh aus und warf ihn gegen die Wand. Dann war Stille.
    Es war eine Sauerei, in Kleidern und einem Schuh im Bett zu liegen, aber ich tat es trotzdem. Ich blickte zur Decke. Irgendwann hatte der Nachbar von oben eine Überschwemmung verursacht, die Decke war voller Flecken, die wie exotische Blumen aussahen. Wenn mir jemand so etwas beschert hätte, ich hätte ihn so lange an den Füßen aus dem Fenster gehängt, bis er mir eine Renovierung und einen neuen Teppich bezahlt hätte, und sei es um den Preis seiner Goldzähne. Aber Sulfia war eine Blume im Wind. Spuckte man sie an, hielt sie es für frischen Regen und streckte sich dem entgegen.
    Mein Kopf begann sich von innen auszudehnen. Wahrscheinlichwar er zu voll. Die Gedanken knäulten

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