Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
solle Aminat einfach in Ruhe lassen, verlangte Sulfia. Das war ein Kunststück, jetzt, wo ich sie für immer verloren hatte. Ich sah sie zerstückelt in irgendeinem Kofferraum liegen, aber Sulfia lächelte, wie immer im unpassendsten Moment, und schüttelte den Kopf.
Aminat war achtzehn, und sie war von zu Hause fortgelaufen: Es war eine Schande, denn einer guten Großmutter liefen die Enkelinnen nicht weg. Erst lauerte ich jede Nacht auf Geräusche im Treppenhaus und kontrollierte mehrmals am Tag, ob das Telefon auch funktionierte.
Sulfia nahm alles auf sich: Sie sagte, sie sei eine miserable Mutter gewesen, dagegen hätte ich auch nichts ausrichten können. Da hatte sie natürlich recht. Nun hatten wir den Salat. Dieter tobte, aber ich sagte ihm, wenn er eine Vermisstenanzeige erstatten würde, dann würde ich auch zur Polizei gehen und eine ganz andere Anzeige erstatten. Dann war er still.
Um nicht wahnsinnig zu werden, stürzte ich mich in die Arbeit im Krankenhaus. Ich sah mir die neuen Frauen auf meiner Station genau an und versuchte, an ihrem Gesichtsausdruck und der Körperhaltung festzustellen, was ihnen fehlte. Daraus entwarf ich ein Krankheitsbild, und dann las ich nach, was meine studierten Kollegen in die Akte geschrieben hatten. Erst irrte ich mich viel, doch bald wurden meine Diagnosen genauer. Ich wusste sofort, wenn eine kam, die kein Kind bekommen konnte, denn sie guckten alle gleich. Aber ich wusste auch, ob bei ihr die Eileiter dicht waren oder ob sie zu männlich war, zu dünn oder den falschen Mann hatte. Ich wunderte mich, dass andere das nicht sahen. Und irgendwann kamein Tag, da näherte ich mich einer Patientin, die sich gerade Antithrombosestrümpfe für die OP anzog, und sagte ihr ins Ohr: »Wenn ich du wäre, würde ich mir die Gebärmutter nicht rausnehmen lassen. Du könntest sie noch brauchen.«
Ihre Finger, die mit dem Strumpf kämpften, wurden ganz steif.
»Es ist dein Körper«, sagte ich. »Hör nicht auf deren Quatsch. Bei dir ist alles okay.«
Während ich im Flur die Fensterbank wischte, hörte ich eine Tür zufallen. Die Patientin hatte sich wieder angezogen und rannte mit ihrer Tasche über den Flur. Die Strümpfe und das OP-Hemdchen lagen auf dem Boden in ihrem Zimmer. Ich hob sie auf und warf sie in den Müll und begann, die Bettwäsche abzuziehen.
Am nächsten Morgen flog ich raus.
Nun hatte ich Zeit. Zeit, die ich mit Sulfia verbrachte: Ich lag im Bett und unterhielt mich mit ihr. Dann stand ich wieder auf und ging auf die Suche. Ich fuhr zum Park, den ich sonst mied, weil dort die Penner herumlungerten. Ich sprach sie an, fragte sie, wie sie hießen und ob sie mein Mädchen gesehen hatten. Ich fuhr zum Bahnhof und dann ein bisschen mit dem Zug zum nächsten Bahnhof, nicht wissend, ob Aminat die Stadt nun verlassen hatte und wenn ja, in welche Richtung.
Sulfia lief hinter mir her, sie beteiligte sich nicht an der Suche. Manchmal hatte ich das Gefühl, Aminat in einer Menschenmenge wiederzuerkennen, von hinten, ich eilte hin, griff atemlos nach ihrem Arm – und eine völlig Fremde drehte sich zu mir um. Ich hatte Fotos bei mir: von Aminat als jüngerem Mädchen, mit gepflegten Haaren und damals schon etwas seltsamemLächeln, und von Aminat, wie sie zuletzt gewesen war, eine unangenehme Erscheinung mit strohigen Haaren und entzündeten Pickeln auf der Stirn. Jeden Tag holte ich bis zu hundertmal Aminats Fotos hervor.
Nach meinem Rauswurf aus dem Krankenhaus verlor ich fünf wichtige Kunden nacheinander. Ich hatte irgendwann nur noch zwei Putzstellen, eine davon bei John. Dann nur noch die eine bei John. Aber ich machte meine Arbeit nicht mehr gründlich. Wenn ich zu John kam, hatte ich überhaupt keine Lust, irgendwas zu tun. Es wäre ehrlicher gewesen zu kündigen.
Ich versuchte es auch – aber er akzeptierte es nicht. Ich kam also zu ihm, eine Viertelstunde später als verabredet (ich, die ich immer so pünktlich war!), und anstatt meine Stiefel gegen die Gummischuhe auszutauschen, ging ich mit Straßenschuhen über Johns Perserteppich direkt in die Küche und setzte mich an den Tisch. Ich versuchte erst gar nicht, den Putzlappen zu nehmen – er wäre mir nur aus der Hand gerutscht.
Während ich also dasaß und den Speiseplan von Essen auf Rädern durchlas, der an Johns Kühlschrank klebte, kochte John schwarzen Tee mit Milch, nach allen Regeln der Kunst, die ich einst so geachtet hatte. Vorgewärmte Kanne, lose Blätter aus einer alten, teuer aussehenden
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