Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Dose, kochendes Wasser, warme Milch, die John zuerst in die Tassen goss. Dazu gab es englische Kekse mit Zuckerkrümeln, die ich in den Tee stippte. Ich trank zwei oder drei große Tassen, in dieser Zeit berichtete mir John von Ereignissen in der Welt. Er las neuerdings wieder Tageszeitung und sah Nachrichten im Fernsehen. Ich tat, als würde ich zuhören. Ich bat ihn auch, darauf zu achten,ob irgendwo Aminats Gesicht oder ihr Name auftauchte, wenn es ging, lebend. Er versprach es mir. Ich gab ihm Fotos von Aminat. Er befestigte sie mit Magneten an seinem Kühlschrank.
Als ich ausgetrunken hatte, erhob ich mich von Johns Küchenhocker, und er reichte mir den Umschlag mit meinem Putzfrauenlohn. Ich schob die Hand mit dem Umschlag beiseite, aber dann fand ich ihn zu Hause in meiner Handtasche.
Übrigens war es immer ziemlich sauber bei John. Seine Tochter war ja auch ganz zufrieden. Ich fragte ihn, wer bei ihm so gut putzte, und er lächelte ein stolzes Gentlemanlächeln und sagte: »Ich selbst.«
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Die Schönste auf der Intensivstation
Die nächsten Jahre vergingen sehr schnell, obwohl nichts passierte.
Ich suchte immer noch nach Aminat. Was blieb mir auch übrig? Aber ich suchte inzwischen halbherzig. Wenn es mir jetzt schien, sie stünde in der Warteschlange an der Kasse vor mir, dann rannte ich nicht mehr hin und fasste keine wildfremden Menschen mehr am Ärmel. Ich trug ihre Fotos immer noch in der Handtasche bei mir, aber ich zeigte sie nicht mehr.
John fuhr nach England zu seinem Bruder und blieb dort. Sein Haus stand verschlossen und menschenleer in der Straße wie ein toter Zahn im Gebiss. Ich hatte einen Schlüssel, weil John mich gebeten hatte, regelmäßig nach dem Rechten zu schauen und abzustauben, und mir eine runde Summe Geld dafür daließ. Ich tat, was ich noch nie getan hatte: Ich brach mein Versprechen und vernachlässigte meine Pflicht, weil es mir zu anstrengend war, zu Johns Haus zu fahren.
Eigentlich sprach ich mit niemandem, nur mit Sulfia. Dinge ereigneten sich, von denen ich nicht mehr genau wusste, ob sie wirklich passiert waren oder ob ich nur gedacht hatte, es wäre gut gewesen, wenn sie passiert wären. Zum Beispiel war ich nicht sicher, ob mich Aminat im ersten Jahr nach ihrem Verschwinden wirklich angerufen und zwei Sätze in den Telefonhörer gesprochen hatte: »Mir geht’s gut, lass mich in Ruhe. Reicht schon, dass du meine Mutter umgebracht hast.« Und ob sie mir im dritten Jahr wirklich zum Geburtstag gratuliert hatte. Sulfia sagte, ich solle mir nichts draus machen. Sie versicherte mir: Aminat liebte mich noch, aber eben auf ihre Art, aus der Entfernung.
Ja, das war Sulfia, sie sah in allem nur das Beste. Ich tat inzwischen, was mir früher sehr fremd gewesen war: Ich blieb einfach im Bett. Meine Zimmertür schloss ich ab, und eines Abends schob ich noch eine Kommode davor, um garantiert nicht gestört zu werden.
Dieter klopfte an meine Zimmertür, ich schickte ihn vom Bett aus zum Teufel. Sulfia redete mir zu, ich solle aufstehen und mir etwas zu trinken holen. Ich bat sie um Ruhe. Das hatte ich mir doch wenigstens verdient. Sie setzte sich an meinen Bettrand und weinte, das ging mir auf die Nerven, und ich drehte mich mit dem Gesicht zur Wand.
Ich bat Gott, Aminat an meine Seite zu holen, denn meine letzte Stunde hatte geschlagen. Ich flüsterte es in die weiß gestrichene Wand, als wäre hier Gottes Ohr, und dann hörte ich plötzlich Johns Stimme – auf der anderen Seite der Tür. Er rief meinen Namen – laut, tief, unfreundlich. Er fragte mich, warum ich nicht, wie vereinbart, in sein Haus gekommen war.Er fand es nicht in Ordnung, dass ich meine Pflichten so vernachlässigte, schließlich wurde ich dafür bezahlt.
»Verschwinden Sie!« rief ich, es sollte laut klingen, aber ich hatte keine Kraft mehr: Aus meinem Mund kam nur ein Zischen.
Ich hatte ganz vergessen, was für einen starken Bass John hatte, eine echte Lehrerstimme, die selbst durch die verschlossene Tür hindurch mein Zimmer füllte. Dieters Quaken ging da hoffnungslos unter.
Ich rührte mich auch dann nicht, als die Tür mit einem fürchterlichen Krachen auseinanderbarst und John über meine Kommode fiel, meinen Versuch, die Außenwelt am Eindringen zu hindern. Ich machte mir flüchtig Gedanken über den Eindruck, den ich gerade bei John hinterließ. Mein Seidennachthemd war zum Glück noch recht frisch und der Spitzenbesatz war noch gebügelt, weil ich mich im Bett nicht bewegt hatte.
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