Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche
Zunge. Was würde noch aus ihr werden, wenn ich immer so reagierte? Eine Sulfia?
Ich begann also einen zweiten Satz, in dem das Wort »Gosse« vorkam, aber mittendrin stellte ich fest, dass ich keine Lust hatte, ihn zu Ende zu sprechen. Stattdessen ging ich in die Küche, kochte einen starken, süßen Kakao und stellte ihn an Aminats Bett. »Bleib liegen, mein Kind«, sagte ich. »Du hast so viel mitgemacht in den letzten Jahren.«
Dann würgte ich an noch mehr solchen Sätzen, schob sie mit gigantischer Willensanstrengung in die Kehle zurück und ging zur Arbeit.
John hatte seit Längerem die Angewohnheit, sich im Schlafzimmer einzuschließen, sobald ich zum Aufräumen kam. Selbst als ich das erste Mal nach der Pause wieder bei ihm war, versteckte er sich vor mir. Ich klopfte nicht an seineTür, eigentlich dachte ich überhaupt nicht an ihn. Ich dachte an nichts, wischte vor mich hin und war eigentlich ganz zufrieden. Deswegen zuckte ich zusammen, als er mich mit gefurchter Stirn fragte, wo ich denn die ganze Zeit gesteckt hätte.
Ich putzte weiter, erzählte aber gleichzeitig, welches Kleid Sulfia im Sarg angehabt hatte und dass ich ihr einen Strauß Schneeglöckchen in die Hände gelegt hatte, damit sie wie eine Prinzessin aussah. John folgte mir durch die Zimmer, und als ich den Staubsauger einschaltete, zog er den Stecker aus der Steckdose und beschwerte sich, bei dem Lärm könne er nichts hören.
Am Ende fragte er, ob er mich nach Hause fahren sollte, aber ich dachte, ich hatte jetzt genug geredet, sagte »Nein, danke« und fuhr mit dem Bus.
Natürlich war es nicht gut, Aminat zu verwöhnen. Ich hatte es ja immer gewusst, und es war nicht gut, dass Sulfia mich dazu brachte, dem Mädchen alles durchgehen zu lassen. Denn Aminat, deren Leben eine Achterbahnfahrt gewesen war, sauste jetzt schnell in den Abgrund, und Sulfia hielt mich davon ab, meine Kraft anzuwenden. Ich machte es wie sie: zuschauen und mitleidig seufzen.
Aminat wurde in der Schule nicht versetzt. Auch meine Fürsprache beim Rektor ihrer Schule, meine Hinweise darauf, dass sie hochbegabt war, bewirkten nichts. »Lass sie doch einfach«, sagte Sulfia. Ich sah das Bild der Gosse vor mir: dunkel, verunreinigt, stinkend. Ich wies Sulfia darauf hin, dass Aminat auf die Art und Weise niemals eine berühmte Ärztin werden würde. Sulfia zuckte in ihrer unnachahmlichen Art mit den Schultern.
Ich ging zu Aminat, die seit Tagen im Bett lag und Comics las.Ich sprach: »Aminat, meine Enkelin und Tochter deiner Mutter Sulfia, wenn du nicht sofort aufstehst und versuchst, ein paar Wissenslücken aufzufüllen, wirst du nie eine berühmte Ärztin werden. Du wirst nie eine strahlende, nach Desinfektionsmitteln riechende Praxis haben, in der viele Patienten warten.«
»Mir doch egal«, sagte Aminat.
Ich schob Sulfia mit dem Ellbogen beiseite: »Aber ich will, dass du eine Ärztin wirst!«
»Wenn’s dir so wichtig ist, werd doch selber eine«, sagte Aminat und blätterte um.
Ich dachte zwei Tage und fünf Stunden darüber nach. Aminat hatte recht: Mein Problem war immer gewesen, dass ich mir zu viele Sachen für andere vornahm. Sie kamen nicht mit. Dafür konnte ich alles verwirklichen, was ich mir für mich vorgenommen hatte. Ich holte also meinen alten Koffer aus dem Keller, in dem viele wichtige Dokumente meines Lebens lagen. Sie waren auf Russisch und schon sehr vergilbt, aber man konnte die Stempel noch sehr gut sehen.
Ich nahm mir einen blauen Plastikordner von Aminats Schreibtisch, auf dem »Biologie« stand, und legte meine Zeugnisse hinein, vorsichtig, damit sie nicht auseinanderfielen. Mit dieser Mappe begab ich mich in die Praxis meines Kunden, des Internisten.
Seine Sprechstundenhilfe konnte lange nicht verstehen, was ich von ihr wollte. Dann ging eine Seitentür auf, ich sah die Nickelbrille meines Kunden und ging einfach hinein. So saß ich bald im Sprechzimmer und schilderte ihm meinen Plan: Er sollte mir einen Platz an einer medizinischen Hochschule verschaffen.
Er lachte kurz auf, wurde wieder ernst. Er sagte, mir fehle die Hochschulreife. Auf meinen Einwand, ich sei studierte Pädagogin, erwiderte er, meine alten russischen Zeugnisse könne man leider in der Pfeife rauchen. Ich musste das Abitur nachmachen, und das sei in meinem »fortgeschrittenen Alter eine ambitionierte Aufgabe«. Ich sagte, dass ich unbedingt im Krankenhaus arbeiten wollte.
Er hätte da eine Idee, sagte er, aber er wisse nicht, ob’s das ist, was ich wirklich
Weitere Kostenlose Bücher