Die Schandmaske
dass sie alle seine Chancen auf einen Haufen Bargeld zunichte machen würden. Wie konnte er sicher sein, dass nicht jemand anders sie schon vor ihm gelesen hatte? Nein, da gibt's mir zu viele Fragezeichen, Charlie.«
»Die ganze Geschichte steckt doch voller Fragezeichen«, entgegnete Jones trocken. »Haben die Tagebücher existiert? Hat der Sucher von ihrer Existenz gewusst? Haben sie etwas Belastendes enthalten? Hat er oder sie von dem Schlüssel gewusst?« Er brach ab und tauchte nachdenklich seinen Keks in den Kaffee. »Es gibt da zwei Punkte, die ich nicht verstehe. Warum hat Mrs. Gillespie ihr ganzes Verm ögen Dr. Blakeney hinterlassen, und warum hat der Mörder ihr die Schandmaske auf den Kopf gesetzt und sie mit Brennnesseln und Maßliebchen geschmückt? Wenn ich die Antwort auf diese beiden Fragen wüsste, könnte ich Ihnen wahrscheinlich sagen, wer sie getötet hat. So aber neige ich dazu, mich mit der Selbstmordtheorie zufriedenzugeben.«
»Ich glaube, ich weiß, warum sie ihr Vermögen Dr. Blakeney hinterlassen hat.«
»Warum?«
»Ich denke, sie hat es mit Pontius Pilatus gehalten. Sie selbst hatte bei der Erziehung ihrer Tochter und ihrer Enkelin völlig versagt und wusste, dass die beiden sich vor lauter Neid und Eifersucht gegenseitig vernichten würden, wenn sie ihnen das Geld hinterließ, also schob sie den Schwarzen Peter dem einzigen Menschen zu, den sie je respektiert hat, nämlich Dr. Blakeney. Ich glaube, sie hoffte, Sarah Blakeney würde gelingen, was ihr nicht gelungen war.«
»Sentimentales Geschwätz«, sagte der Inspector liebenswürdig. »Und das kommt daher, dass Sie von der Wirkung, die Sie sehen, auf die Ursache schließen, die Ihrer Meinung nach ein normaler Mensch hätte erreichen wollen. Versuchen Sie es doch mal andersherum. Sie war eine gehässige, hinterhältige und bösartige alte Frau, die sich nicht nur mit Hilfe von Erpressung und Versicherungsschwindel ein Vermögen sicherte, sondern praktisch ihr Leben lang jeden, der mit ihr zu tun hatte, verabscheute und verachtete. Weshalb hat sie plötzlich, nachdem sie sechzig Jahre lang nichts als Unfrieden gestiftet hatte, einer netten, sympathischen Fremden ein Vermögen vermacht? Bestimmt nicht, um Harmonie zu stiften.« Jones kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ich könnte mir noch vorstellen, dass die Schandmaske als ein Symbol dafür gemeint war, dass diese böse Zunge nun für immer gezähmt sei, aber ich glaube nicht daran, dass bei dieser Frau, als sie ihr Testament machte, plötzlich ein totaler Sinneswandel eintrat.«
»Sie dürfen nicht vergessen, wie die Blakeneys die Frau sehen, Charlie. Ihnen zufolge war sie weit angenehmer und sympathischer als alle anderen ihr zugestehen wollten. Ich vermute, sie haben ihr ganz einfach Raum zum Atmen gelassen, nichts von ihr verlangt, und da kam die wahre Mathilda Gillespie zum Vorschein.« Er machte eine Pause, um sich kurz zu sammeln. »Denken Sie mal über folgendes nach: Wir haben uns doch vor allem wegen Ophelias Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen mit der Symbolik der Schandmaske aufgehalten, vielleicht sollten wir sie einmal ganz nüchtern betrachten. Diese Dinger wurden benutzt, um Frauen zum Schweigen zu bringen, und vielleicht war genau das der Grund, warum sie sie aufhatte. Der Mörder wollte verhindern, dass sie schrie und womöglich die Nachbarn alarmierte. Darum setzte er ihr die Maske auf. Die Blumen hat er sp äter nur hineingesteckt, um ihr eine mystische, aber völlig irreführende Bedeutung zu geben.«
Jones machte ein skeptisches Gesicht. »Aber sie muss die Schlaftabletten vorher genommen haben, sonst hätte sie sich gewehrt, als ihr die Schandmaske aufgesetzt wurde, und wir hätten Kratzer in ihrem Gesicht gefunden. Wenn sie aber so stark betäubt war, dass sie sich nicht einmal wehrte, wozu dann die Maske?«
»Nehmen Sie an, Sie wollen eine Frau töten und einen Selbstmord vortäuschen. Da die Nachbarn unangenehm nahe sind, brauchen Sie ein Mittel, um Ihr Opfer ruhig zu halten, falls die Schlaftabletten nicht die von Ihnen erhoffte Wirkung haben sollten. Eine Art Rückversicherung mit anderen Worten. Klebeband oder Pflaster können Sie nicht verwenden, weil das Spuren auf der Haut hinterlässt, und Sie sind clever genug, keinen Knebel zu benutzen, weil da ja bei der Obduktion Fasern im Mund gefunden werden könnten. Sie greifen also zu etwas, das nach vollbrachter Tat nicht entfernt zu werden braucht und für das Opfer seine eigene Bedeutung hat, und
Weitere Kostenlose Bücher