Die scharlachrote Spionin
unergründlich, als sie sich in seinen Armen umdrehte.
»Ja«, erwiderte Sofia, dankbar dafür, dass die Schatten auch ihr Gesicht verbargen. »Wir sollten uns lieber schnell anziehen und verschwinden. Bald wird die Dienerschaft auf den Beinen sein. Der Tag fängt an.«
»Nicht so schnell.« Er versperrte ihr den Fluchtweg. »Wir müssen reden, Sofia!«
»Es bleibt uns keine Zeit ...«, widersprach sie.
»Genug für gewisse Erklärungen.« Er berührte den schwarzen Falken über ihrer Brust. »Fangen wir hiermit an.«
Sofia parierte mit einer Gegenfrage. »Was weißt du darüber?«
»Ah! Stehen wir wieder auf Kriegsfuß?«
Klang da eine Spur der Enttäuschung in seiner Stimme auf? Sofia seufzte. »Ich ... ich will nicht gegen dich kämpfen, Deverill.«
»Aber ebenso wenig willst du mir vertrauen.« Er presste die Lippen aufeinander. Am liebsten hätte sie die Hand nach ihm ausgestreckt.
»Es ist keine Frage des Vertrauens«, erwiderte sie stattdessen, »ich möchte nicht, dass du dich der Gefahr aussetzt. Gestern Abend warst du gezwungen, wegen mir dein Leben aufs Spiel zu setzen.«
Er zögerte, wirkte unsicher, was er antworten sollte. Es klang halb nach einer Frage, halb nach einer Behauptung, als er wieder das Wort ergriff. »Du gehörst zu einer Diebesbande?!«
»Ja.« Warum sollte sie es bestreiten? »Ich bin geschickt worden, ein paar wertvolle Dinge zu stehlen.«
»Wer hat dich geschickt?«
»Das ist nicht wichtig«, wehrte sie rasch ab. »Es handelt sich um einen schwierigen, gefährlichen Einsatz. Das ist das Einzige, was zählt. Sonst nichts.«
Der Regen hatte aufgehört, und ein paar Sekunden lang reflektierten die Glasscheiben nur das Schweigen. Dann fixierte er sie mit dem Blick. »Vielleicht kann ich helfen.«
Osborne überraschte sie immer wieder. Aber so bestechend der Vorschlag auch sein mochte, sie war gezwungen, den Kopf zu schütteln. »Lord Sunshine wird von der Polizei geschnappt, weil er ein paar herrschaftliche Anwesen in Mayfair ausgeraubt hat? Überleg doch mal, was für einen Skandal das aufrühren würde!«
Er zuckte die Schultern. »Ich würde mich ja nicht in der Gegend aufhalten und Zeitung lesen. Sondern auf einem Deportationsschiff nach Botany Bay.«
»Das ist nicht witzig!«, entgegnete Sofia, als sie seine Mundwinkel zucken sah. »Ich meine es bitter ernst.«
»Genau wie ich.« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Denk doch mal nach ... Ich kenne die Salons besser als meine Westentasche. Ich kenne die Gewohnheiten der Leute, ihr Zuhause, und in manchen Fällen auch die verborgensten Verstecke.«
»Sei nicht albern!« Sofia beobachtete, wie das regennasse Licht über sein Profil flirrte. Es schien die untergründige Strenge seiner Konturen zu betonen. In ihren Augen hatte er nicht länger nur ein attraktives Gesicht, war nicht länger nur ein wohlgeformter Adonis, perfekt auf Hochglanz poliert, aber ohne jeden charakterlichen Tiefgang.
Sie zwang sich, den Blick abzuwenden. »Warum solltest du deinen Ruf für ein paar gestohlene Kostbarkeiten ruinieren? Du brauchst das Geld doch gar nicht.«
Osborne schmiegte sich dichter an sie. »Oh, wenn meine innere Stimme mir nur nicht ständig einflüstern würde, dass du all das gar nicht wegen des Geldes machst, Sofia.«
»W ... wie kommst du darauf?«
»Ich glaube, auf meine Menschenkenntnis kann ich mich felsenfest verlassen.« Das Mondlicht glitzerte auf seinen goldfarbenen Wimpern. »Es ist nicht die Gier, die dich zu dieser leidenschaftlichen Jagd antreibt.«
»Der Antrieb für meine Jagd geht nur mich etwas an.« Seine Mutmaßungen machten ihr mehr und mehr zu schaffen; sie musste ihn auf eine andere Spur lenken. »Außerdem hast du noch kein Wort über die Risiken verloren.«
»Bildest du dir ein, ich sei zu bequem, um ein kleines Risiko auf mich zu nehmen? Zu sehr an mein Wohnzimmer gefesselt?« Seine Stimme klang ein wenig rau.
»Ich zweifle nicht an deinem Mut, Osborne.« Sofia seufzte. »Nur an deinem Verstand. Du wärst ein ausgewachsener Dummkopf, wenn du dich auf die Angelegenheit einlassen würdest.«
»Das bin ich bereits.« Er drehte sich langsam um, durchbohrte sie mit einem Blick aus seinen stürmisch blauen Augen. »Sind wir wieder bei ›Osborne‹? Klingt reichlich distanziert angesichts der Vertraulichkeiten, auf die wir uns heute Nacht eingelassen haben.«
Der Abstand zwischen ihnen betrug zwar nur wenige Zentimeter, aber Sofia wusste auch, dass es zwischen ihnen eine Kluft gab, die
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