Die scharlachrote Spionin
man diese mächtige Anziehungskraft beschreiben? Er ließ den Blick über die geordneten Buchreihen auf dem Regal schweifen. Diese Kraft schien sich sowohl der Prosa als auch der Poesie zu entziehen. War es Liebe - dieser Wirrwarr an widerstreitenden, aufwühlenden Gefühlen? Bisher hatte er sich nur auf leichtsinnige Tändeleien eingelassen. Auf dem Gebiet der großen Gefühle jedoch war er gänzlich unerfahren. Und er wollte sich zu keinerlei Vermutung hinreißen lassen.
Nur eins war sicher: Er konnte sich nicht einfach aus dem Staub machen und Lady Sofia - oder wer auch immer sie war - allein der Gefahr überlassen. Weder an ihrem Mut noch an ihrer Standfestigkeit hegte er irgendwelche Zweifel; aber auch er hatte streng gefasste Vorstellungen von Ehre.
Bis jetzt hatte sie die Regeln ihrer Begegnungen diktiert. Höchste Zeit also, dass er die Dinge in die eigenen Hände nahm.
Osborne warf das Messer zurück auf den Schreibtisch, schnappte sich Hut und Spazierstock und eilte zur Tür.
Sofias Unruhe wuchs von Minute zu Minute. Den größten Teil des Vormittags verbrachte sie damit, auf die Uhr zu schauen und stumm die ungeschriebenen Gesetze der Gesellschaft zu verfluchen, die sie hinderten, erst weit nach Mittag zu ihrem Besuch bei Sterling zu erscheinen. Die Warterei zehrte an ihren Nerven, umso mehr, als sie gezwungen war, sich über ihre Machenschaften des vergangenen Abends den Kopf zu zerbrechen. Es gefiel ihr nicht, den Duke enttäuschen zu müssen. Aber sie konnte es sich einfach nicht erlauben, ihm ihre wahre Identität oder die wahre Mission zu enthüllen. Mit ein wenig Glück würde Lynsley irgendwann in der Zukunft in der Lage sein, ihm die Wahrheit zu beichten.
Bis es soweit war, musste er im Dunkeln tappen.
Genau wie Osborne.
Sofia zog sich den Umhang ein wenig fester um die Schultern. In einer Nachricht hatte sie ihm zu verstehen gegeben, dass sie ihre übrigen Verabredungen der Woche abzusagen wünschte, und erleichtert zur Kenntnis genommen, dass er keine Einwände erhob. Der Vortrag über das Altertum, eine Poesie-Lesung im Literary Ladies Club, ein Termin bei ihrem Schneider - die Liste der Entschuldigungen war unanfechtbar. Und doch keimte tief in ihrem Herzen Enttäuschung auf, dass er ihre Zurückweisung widerspruchslos hingenommen hatte.
Aber vielleicht verhielt es sich auch so, dass man eine flüchtige Begegnung am besten dadurch beendete, indem man so tat, als habe sie niemals stattgefunden. Schließlich war Osborne ein wahrer Meister in solchen Dingen. Und dafür sollte sie dankbar sein. Denn weder sie noch er hatte es auf gefühlsmäßige Verstrickungen angelegt.
»Ihre Kutsche steht bereit, Mylady.«
Sofia straffte den Rücken, griff nach ihrem Retikül und eilte zur Tür.
Das Stadthaus des Dukes war ein imposantes Gebäude aus weißem Portland-Stein, das auf den Grosvenor Square hinauszeigte. Als Sofia die Marmorstufen hinaufstieg, fühlte sie sich mehr denn je als Eindringling. Der Türklopfer, ein silbrig glänzender Löwenkopf, schien die Nase zu rümpfen über das Straßenkind, das sich daranmachte, geweihten Hallen zu betreten, die er bewachte.
Sofia hob das Kinn und ergriff den Ring. Es mochte sein, dass sie weder Prinzessin noch Herzogin war; aber sie war ein Merlin und würde hocherhobenen Hauptes das Haus betreten.
Sterling erschien in der Halle, bevor der Diener ihm Sofias Karte überbringen konnte. »Treten Sie näher, Contessa, treten Sie näher!« Der Duke schickte den Butler mit einer Handbewegung fort und führte sie durch den langen Parkettkorridor in den hinteren Teil des Hauses.
»Ich habe die Stücke, die Sie zu sehen wünschen, in eines der Ausstellungszimmer gebracht.« Er zeigte auf den langen Schreibtisch, der zwischen den Kabinettschränken aufgestellt war.
»Vielen Dank.« Sofia legte ihr Retikül ab und betrachtete die Antiquitäten ein paar Sekunden lang, bevor sie die Ikone in die Hand nahm und gegen das Licht hielt. Die hölzerne Platte war altersbedingt dick und schwarz geworden, obwohl die Farbpigmente und die Vergoldung immer noch reich schimmerten. Der Heilige Georg mit dem Drachen. Sie schickte ein stummes Stoßgebet zum Himmel, dass sie ebenfalls in der Lage sein möge, ein übermächtiges Ungeheuer zu bezwingen, und drehte das Bildnis vorsichtig um.
Mit den Fingerspitzen fuhr sie über das raue Eichenholz, betastete den Rahmen. Dabei war ihr nicht einmal klar, wonach sie eigentlich suchte. Vielleicht hatte Lord Robert sich doch nur von
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